Posted: February 15th, 2016 | Author: Finn | Filed under: Artikel | Tags: Groove, Radio | 4 Comments »
1977 bin ich acht Jahre alt, und ein Virtuose der Pausen-Taste meines BASF-Kassettenrekorders. Ich nehme vornehmlich Disco und Glam Rock-Ausläufer aus dem Radio auf. Werner Veigel ist der Yacht Rock-Don von NDR 2. Dann sagt Wolf-Dieter Stubel in der Internationalen Hitparade beim gleichen Sender angesäuert „God Save The Queen“ von den Sex Pistols an. Ich bin nicht überzeugt, aber das Musikprogramm wird in den folgenden Jahren wesentlich interessanter.
1981 habe ich das Nachtprogramm vom NDR entdeckt. Innerhalb kurzer Zeit nehme ich unfassbare Konzerte von Palais Schaumburg, Deutsch-Amerikanische Freundschaft und The Wirtschaftswunder auf.
1985 hat das Format-Radio Einzug gehalten, und es läuft gefühlt nur noch Phil Collins.
1985 wird Paul Baskerville schon wieder einen Sendeplatz beim NDR los, und spielt zum Abschied ausschließlich fantastische Musik aus seiner Heimatstadt Manchester.
1988 tanze ich seit zwei Jahren zu House in Hamburger und Kieler Clubs. Zum ersten Mal im Radio höre ich die Musik aber in einer mehrstündigen Live-Übertragung aus dem Hannoveraner Club Checkers.
1989 höre ich auf einer langen Autofahrt durch Frankreich eine beeindruckende Sendung namens „Ecstasy Club“. Aus Müsique forevör! Kurze Zeit später in Palma, auch nur noch House in der Playlist. Deutschland? Fehlanzeige.
1991 fahre ich durch Niedersachsen und kann endlich mal wieder John Peel auf BFBS hören. Er spielt dreimal hintereinander „Gypsy Woman“. Beim zweiten Mal summe ich mit.
1993 bin ich in London und mache im Hotelzimmer das Radio an. Noch am gleichen Tag kaufe ich auf dem Portobello Market zahlreiche Kassetten-Mitschnitte von amerikanischen DJs auf Kiss FM und englischen Jungle DJs. Ich will auch Piratensender.
1994 ist meine Freundin als Au Pair in Rom und schickt mir Tape-Mitschnitte von überragenden House-Shows des Senders Radio Centro Suono. Ich bin froh, dass es ihr so gut geht.
1994 startet Boris Dlugosch aus dem Hamburger Clubs Front seine Mixshow auf dem Jugendsender N-Joy. Jahre zu spät für das regelmäßige Club-Erlebnis im Radio, aber trotzdem höchst willkommen.
1995 zu Besuch in Berlin, letzte Love Parade auf dem Kurfürstendamm. Vor ihren Club-Gigs spielen eine Menge DJs im Radio. Ich kriege bis heute nicht raus, von wem der „When Doves Cry“-Bootleg ist, den alle zu haben scheinen.
1997 habe ich auch dieses Internet, arbeite mich systematisch durch die historischen Radioaufnahmen der Mix-Sektion der Deep House Page und rücke Kontexte zurecht. Ich brauche alles von WBLS und WBMX und komme mir aus nationaler Perspektive jetzt erst recht betrogen vor.
1999 verbrenne ich eine Menge Geld, um mit meinem AOL-Einwähltarif in Echtzeit ohne Buffer-Aussetzer das Set von Derrick Carter bei der Beta Lounge auf Kassette aufzunehmen und hasse den Real Player mehr als die CDU.
2001 habe ich auch dieses Breitband-Internet. Jetzt brauche ich alle historischen Radioshows, die ich kriegen kann. Kurze später finde ich heraus was ein monatliches Datenvolumen ist. Fies.
2002 habe ich auch diese Breitband-Flatrate und höre regelmäßig das Cybernetic Broadcast System. Dass Italo Disco, die heimlich verehrte Prollmusik meiner frühen Jugend, einmal derart hip sein würde, hätte ich niemals gedacht. Die anderen Bestandteile des Programms freuen mich aber auch.
2004 rotiert auf dem CBS der Acid House-Mix „Smileyville“, den ich mit einem Freund angefertigt habe. Result.
2005 sammle ich immer noch ausgiebig historische Radioshows und Club-Mitschnitte über gängige Suchmaschinen, aber jetzt kommen auch noch Podcasts hinzu. Ich verweigere mich iTunes und lade umständlich einzeln herunter.
2007 frage ich mich, was Steinski wohl so treibt und entdecke seine Themen-Sendungen auf WMFU. Ich höre begeistert Radio, als wären es wieder die 80er. Ein Moderator, ein Thema, Musik zum Thema. Vielleicht geht doch alles etwas zu schnell.
2007 erzählt mir Eric Wahlforss von seinem Start Up zum Austausch unter Musikern und gibt mir einen Voucher. Auf Soundcloud entdecke ich allerdings auch bereits reichlich Fremdeigentum. Mir schwant juristisches Konfliktpotential.
2007 gründe ich mit Freunden das Webzine D*ruffalo und dessen DJ-Exekutive, die D*ruffalo Hit Squad. Wir initiieren die Druffmix-Serie und peitschen nacheinander alles durch, was uns jemals musikalisch begeistert hat.
2010 schaue ich mir Theo Parrish im Boiler Room an, vom Schreibtisch aus. Ich frage mich wie viel bequemer alles noch werden wird, bevor es alle langweilt.
2011 Entnervt von den allwöchentlichen Gig-File-Tauschbörsen entscheiden Stefan Goldmann und ich den DJ-Mailout unseres Labels Macro einzustellen und stattdessen nur noch Radioshows zu bemustern. Wir recherchieren bis in die entlegensten Winkel und sind erstaunt, was es alles gibt.
2013 beginne ich nach diversen Gastauftritten bei terrestrischen und virtuellen Radiosendern über die Jahre bei dem neu gegründeten Berlin Community Radio meine monatliche Sendung „Hot Wax“. Eigentlich will ich nur präsentieren, was ich mir an neuer Musik von Hard Wax mitnehme, aber dann peitsche ich nacheinander alles durch, was mich jemals musikalisch begeistert hat.
2014 sitze ich auf einem Podium zum Thema Radio und Clubkultur. Monika Dietl hat eine Tüte mit Kassetten dabei, und spielt umwerfende Highlights ihrer Sendungen aus den 90ern vor. Nur Musik zu spielen, wie man es zur Zeit meistens macht, ist eben doch oft nicht alles.
2015 beugt sich Soundcloud dem Druck der Majors bezüglich Copyright-Verletzungen und löscht im Zuge auch die Accounts der Internet-Radiosender NTS, Red Light und Berlin Community Radio. Es folgt ein Exodus zu Mixcloud und anderen Plattformen, mit erheblichem Verlust an Reichweite.
2015 stelle ich aus Zeitmangel schweren Herzens „Hot Wax“ ein, nach 35 Sendungen.
2016 stelle ich zufällig fest, dass ich hundert Mitschnitte von Froggy & The Soul Mafia archiviert habe, obwohl mir die von ihnen gespielte Musik oft zu jazzfunkig und raregroovig ist, um mir das öfter anzuhören. Es ist mir aber egal. Ich weiß noch, wie es 1977 war.
Groove März/April 2016
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