1977 bin ich acht Jahre alt, und ein Virtuose der Pausen-Taste meines BASF-Kassettenrekorders. Ich nehme vornehmlich Disco und Glam Rock-Ausläufer aus dem Radio auf. Werner Veigel ist der Yacht Rock-Don von NDR 2. Dann sagt Wolf-Dieter Stubel in der Internationalen Hitparade beim gleichen Sender angesäuert „God Save The Queen“ von den Sex Pistols an. Ich bin nicht überzeugt, aber das Musikprogramm wird in den folgenden Jahren wesentlich interessanter.
1981 habe ich das Nachtprogramm vom NDR entdeckt. Innerhalb kurzer Zeit nehme ich unfassbare Konzerte von Palais Schaumburg, Deutsch-Amerikanische Freundschaft und The Wirtschaftswunder auf.
1985 hat das Format-Radio Einzug gehalten, und es läuft gefühlt nur noch Phil Collins.
1985 wird Paul Baskerville schon wieder einen Sendeplatz beim NDR los, und spielt zum Abschied ausschließlich fantastische Musik aus seiner Heimatstadt Manchester.
1988 tanze ich seit zwei Jahren zu House in Hamburger und Kieler Clubs. Zum ersten Mal im Radio höre ich die Musik aber in einer mehrstündigen Live-Übertragung aus dem Hannoveraner Club Checkers.
1989 höre ich auf einer langen Autofahrt durch Frankreich eine beeindruckende Sendung namens „Ecstasy Club“. Aus Müsique forevör! Kurze Zeit später in Palma, auch nur noch House in der Playlist. Deutschland? Fehlanzeige.
1991 fahre ich durch Niedersachsen und kann endlich mal wieder John Peel auf BFBS hören. Er spielt dreimal hintereinander „Gypsy Woman“. Beim zweiten Mal summe ich mit.
1993 bin ich in London und mache im Hotelzimmer das Radio an. Noch am gleichen Tag kaufe ich auf dem Portobello Market zahlreiche Kassetten-Mitschnitte von amerikanischen DJs auf Kiss FM und englischen Jungle DJs. Ich will auch Piratensender.
1994 ist meine Freundin als Au Pair in Rom und schickt mir Tape-Mitschnitte von überragenden House-Shows des Senders Radio Centro Suono. Ich bin froh, dass es ihr so gut geht.
1994 startet Boris Dlugosch aus dem Hamburger Clubs Front seine Mixshow auf dem Jugendsender N-Joy. Jahre zu spät für das regelmäßige Club-Erlebnis im Radio, aber trotzdem höchst willkommen.
1995 zu Besuch in Berlin, letzte Love Parade auf dem Kurfürstendamm. Vor ihren Club-Gigs spielen eine Menge DJs im Radio. Ich kriege bis heute nicht raus, von wem der „When Doves Cry“-Bootleg ist, den alle zu haben scheinen.
1997 habe ich auch dieses Internet, arbeite mich systematisch durch die historischen Radioaufnahmen der Mix-Sektion der Deep House Page und rücke Kontexte zurecht. Ich brauche alles von WBLS und WBMX und komme mir aus nationaler Perspektive jetzt erst recht betrogen vor.
1999 verbrenne ich eine Menge Geld, um mit meinem AOL-Einwähltarif in Echtzeit ohne Buffer-Aussetzer das Set von Derrick Carter bei der Beta Lounge auf Kassette aufzunehmen und hasse den Real Player mehr als die CDU.
2001 habe ich auch dieses Breitband-Internet. Jetzt brauche ich alle historischen Radioshows, die ich kriegen kann. Kurze später finde ich heraus was ein monatliches Datenvolumen ist. Fies.
2002 habe ich auch diese Breitband-Flatrate und höre regelmäßig das Cybernetic Broadcast System. Dass Italo Disco, die heimlich verehrte Prollmusik meiner frühen Jugend, einmal derart hip sein würde, hätte ich niemals gedacht. Die anderen Bestandteile des Programms freuen mich aber auch.
2004 rotiert auf dem CBS der Acid House-Mix „Smileyville“, den ich mit einem Freund angefertigt habe. Result.
2005 sammle ich immer noch ausgiebig historische Radioshows und Club-Mitschnitte über gängige Suchmaschinen, aber jetzt kommen auch noch Podcasts hinzu. Ich verweigere mich iTunes und lade umständlich einzeln herunter.
2007 frage ich mich, was Steinski wohl so treibt und entdecke seine Themen-Sendungen auf WMFU. Ich höre begeistert Radio, als wären es wieder die 80er. Ein Moderator, ein Thema, Musik zum Thema. Vielleicht geht doch alles etwas zu schnell.
2007 erzählt mir Eric Wahlforss von seinem Start Up zum Austausch unter Musikern und gibt mir einen Voucher. Auf Soundcloud entdecke ich allerdings auch bereits reichlich Fremdeigentum. Mir schwant juristisches Konfliktpotential.
2007 gründe ich mit Freunden das Webzine D*ruffalo und dessen DJ-Exekutive, die D*ruffalo Hit Squad. Wir initiieren die Druffmix-Serie und peitschen nacheinander alles durch, was uns jemals musikalisch begeistert hat.
2010 schaue ich mir Theo Parrish im Boiler Room an, vom Schreibtisch aus. Ich frage mich wie viel bequemer alles noch werden wird, bevor es alle langweilt.
2011 Entnervt von den allwöchentlichen Gig-File-Tauschbörsen entscheiden Stefan Goldmann und ich den DJ-Mailout unseres Labels Macro einzustellen und stattdessen nur noch Radioshows zu bemustern. Wir recherchieren bis in die entlegensten Winkel und sind erstaunt, was es alles gibt.
2013 beginne ich nach diversen Gastauftritten bei terrestrischen und virtuellen Radiosendern über die Jahre bei dem neu gegründeten Berlin Community Radio meine monatliche Sendung „Hot Wax“. Eigentlich will ich nur präsentieren, was ich mir an neuer Musik von Hard Wax mitnehme, aber dann peitsche ich nacheinander alles durch, was mich jemals musikalisch begeistert hat.
2014 sitze ich auf einem Podium zum Thema Radio und Clubkultur. Monika Dietl hat eine Tüte mit Kassetten dabei, und spielt umwerfende Highlights ihrer Sendungen aus den 90ern vor. Nur Musik zu spielen, wie man es zur Zeit meistens macht, ist eben doch oft nicht alles.
2015 beugt sich Soundcloud dem Druck der Majors bezüglich Copyright-Verletzungen und löscht im Zuge auch die Accounts der Internet-Radiosender NTS, Red Light und Berlin Community Radio. Es folgt ein Exodus zu Mixcloud und anderen Plattformen, mit erheblichem Verlust an Reichweite.
2015 stelle ich aus Zeitmangel schweren Herzens „Hot Wax“ ein, nach 35 Sendungen.
2016 stelle ich zufällig fest, dass ich hundert Mitschnitte von Froggy & The Soul Mafia archiviert habe, obwohl mir die von ihnen gespielte Musik oft zu jazzfunkig und raregroovig ist, um mir das öfter anzuhören. Es ist mir aber egal. Ich weiß noch, wie es 1977 war.
Why does this record mean so much to you? Is this a time capsule of a certain kind? What is its appeal?
It very much is. Although it is of its time in certain ways I don’t really feel it has dated. It was a record that I heard quite a few times before I had any idea who it was. I was usually too shy to ask DJs back then and there were lots of tracks that you would hear and just know because you’d heard them before and maybe one day you’d actually turn it up in a store, or meet someone in the club who could tell you, or it got used on a mix. Which is how I found out what this one was.
The thing I love so much about it is it creates a mood that is perfect at any time of the night or morning. It has the exact balance of menace, tension, joy and release that the perfect DJ tool needs. The mixdown is really nicely done, the way it ebbs, flows and kicks at certain points. I have a distinction between what often gets called ‘tools’ which to my ear are usually just drum tracks with a stab or a pad or something and the really useful stuff which usually has a fair bit more going on and can always take you up, down, reset, roll out, maintain… anything that you ask of it. This is one of those tracks.
I guess most people stay true to their formative years in the clubs of their youth. What made The End so special?
It was a club that was very well designed. Loosely based upon The Tunnel in New York but with a crucial difference of placing the booth in the middle of the floor so the DJ was cocooned by the crowd, who were in turn were cocooned by the sound system. The fact that this set up existed in a tunnel created two opportunities. The first was that it was very easy to lose yourself at the back by the system without feeling any disconnection from the place. The second was that this architecture created a particular atmosphere that I think must have meant certain DJs would have fun in a way that more disconnected settings don’t encourage. Its obviously a truism to say that good DJs play to the setting they are in, whilst bad DJs do the same thing no matter where they are. Well, this was a space that I feel coaxed the best from people.
I went maybe twice a month on average for about two years, then less frequently for the next few years because I had relocated to Glasgow, but in that time almost every night held surprises at what had been played, or how it had been played. The video of Mills covers a little of that ground. You cannot understate the importance of having these experiences to draw on when you end up doing this for a living, your own constellation of places and people that inspired you. That’s what gives you your distinct voice and I feel massively grateful to have had that club incubating me. Read the rest of this entry »
Derrick Carter war lange Zeit ein mehr als verlässlicher Garant für sehr individuelle House-Musik. Zu Gründungszeiten von Classic Mitte der 90er war er noch ganz in den Schnittmengen von Chicago und Detroit verhaftet, dann dauerte es aber nicht lange, bevor er in zahlreichen Eigenproduktionen und Remixarbeiten den Sound perfektionierte für den er auch heute noch steht: ein eigenwilliger Funk, stets versehen mit bouncigen technoiden Versatzstücken, einer Art hintergründiger Deepness, die sich nur schwer mit den anderen großen Melancholikern des Genres vergleichen ließ, und vor allem einer gehörigen Portion Exzentrik. Sein Haltung und seine Inhalte waren eigenbrötlerisch verschroben, stets sehr klug und entwickelten auf dem Fundament seiner Tracks oft eine merkwürdige nachhaltige Qualität. Oft wandte er eine ähnliche Herangehensweise wie seine Zeitgenossen an, bei Disco-Dekonstruktionen etwa, aber er machte daraus etwas ganz Eigenes. Sei es über mit Referenzen gespickte Tracktitel, über eine smarte Sample-Auswahl, und natürlich seine Art, über das eigene gesprochene Wort einen mindestens doppelten Boden einzubauen. Man schien meistens beim Hören seiner Musik die Gelegenheit zu haben, in die Gedankenwelt von Jemandem einzutauchen, dessen Idee von Clubmusik bei eingelösten Funktionalitätsgeboten nicht bereits eingelöst war. Vielmehr erschloss sich erst von dort aus eine komplexe Betrachtung subjektiver und objektiver Zusammenhänge, die weit über das Maß hinausging, mit dem andere Produzenten ähnliche Felder beackerten. Carter gab sich nicht damit zufrieden, mit leicht identifizierbaren Reminiszenzen eine Vertrauensbasis herzustellen, er bog bis dahin ein paar Mal um die Ecke, und lenkte das Gesamterlebnis dann mit seinen Texten in ganz andere, unerwartete Bahnen. Am besten gelang ihm das auf seinen EPs auf Classic, wie „Nü Pschidt“ oder „Unterschrift“ und anderen 12“s, dort wagte er sich am weitesten in die eigenen Ideen vor, und von dort kam er auch mit den interessantesten Tracks zurück. Für mich persönlich ist „Shhh!“ immer noch eine seiner besten Platten. Ein für ihn typischer, hüpfender Groove, den man aber 2001 nicht mehr unbedingt in dieser Frische und Qualität von ihm erwartet hätte. Darauf setzt er einen Monolog, laut Labelcredits in einem Hotelzimmer geschrieben, dessen Text weit über die leeren Hüllen hinausgeht, die man sonst im Club zu hören kriegt: „ It’s quiet now, and as I think my thoughts alone, I try to keep my head straight, but I think I’m too far gone. For in this silence, the truth ringes even louder. A constant grinding begging recognition of its power“. Und so geht es weiter, immer tiefer in die eigene Psyche. Die Musik dazu scheint fast wie ein Echo der Nacht davor, als der Erzähler noch in ganz anderen Gemütszuständen war, und dies ist der fällige Comedown, der in seiner Gegensätzlichkeit umso härter trifft. Zusätzlich verstört, dass Carter dabei den Erkennungswert seiner Erzählstimme fast auf Heliumniveau hochpitcht. Ein dunkles, klaustrophobisches und psychedelisches Ausnahmewerk entstand somit, immer noch unvergleichlich, immer noch tief beeindruckend. Als Coda gibt es dann „What Happened To The Music?“, ein Slowmotion-Disco-Groover, aus dem heutzutage vermutlich jemand einen dieser gedrosselten Housetracks gemacht hätte, die gerade so in Mode sind. Bisschen schickes Sample dazu, ein paar bewährte, möglichst warme Akkorde, verknappte Auflage, fertig ist die Laube. Derrick Carter reicht hingegen die Dualität zwischen dem bitteren Gehalt des originalen Songs von den Trammps und der extraüberzeugenden Slickness seines neu untergebauten Grooves, um darauf hinzuweisen, dass man eine Menge falsch machen kann, wenn man Alt und Neu aufeinandertreffen lässt. Er muss es damals schon geahnt haben, aber vielleicht nicht in diesem Ausmaß.
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