V/A – The Nature of Retribution

Posted: September 1st, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , , | No Comments »

Die Faszination der Labels Prescription und Balance ist weiterhin ungebrochen. Erfolgreiche Reissues, irrsinnige Online-Marketplace-Preise und zahllose Versuche des internationalen Nachwuchses in unterschiedlicher Fallhöhe, die Magie der klassischen Veröffentlichungen für das eigene Profil abzuwaschen, künden immer aufs Neue davon und selbst das lange Schweigen von Chez Damier und Ron Trents fortwährende Abstecher ins jazzig-spirituelle Dudel-Muckertum ließen den Glanz ihrer Großtaten nie verblassen. Es erscheint mir etwas sinnlos aus dem Katalog eines der klassischsten Deep-House-Labels den definitiven Klassiker zu bestimmen, da hat jeder seine eigene Geschichte (wen es dennoch interessiert, bei mir wäre es “Forever Monna“, aus verschiedensten Gründen). Also soll es hier um “The Nature Of Retribution“ gehen, aus dem einfachen Grund, dass diese Platte zum Zeitpunkt ihres Erscheinens 1995 eine Art Rückschau auf die eigenen Karrieren war, und gleichzeitig alles aufwies, was diese zumindest im Kanon von Deep House für immer andauern lassen wird. Alles was des Afficionados Kultdetektor fuchsig macht, ist hier vertreten: Die Platte verzichtet vollkommen auf Credits. Keine Titel, keine Autoren, nix. Wozu auch, es ist offensichtlich wer und was hier dahinter steckt. In neuen Versionen schaut Chez Damier noch mal bei seiner legendären 49 auf KMS und Chuggles vorbei, und Ron Trent bei Nagual. Dazu gibt es noch einen für sie typischen, luftigen House-Gospel, der vermutlich eine Gemeinschaftsproduktion ist. Was sich hier wie eine relativ profane Vorgehensweise einer überschaubaren Werkschau liest, versammelt jedoch eine Ansammlung von Tracks, die bis heute alles in den Staub schmettern was ihren Weg kreuzt, in Neuversionen, die mindestens in der Lage sind das Gleiche anzurichten. A1 ist eine geradezu frustrierende Lehrstunde darin, mit wie wenig man wie viel erreichen kann. Ein Beat, ein paar Akkorde, ein versprengtes Vocal-Sample. Fertig ist das Meisterstück, auch wenn es, wie auch schon bei früheren Tracks der Labels der Fall, hier in einer Kürze zum Verzweifeln fast nur skizziert wird. A2 ist der wilde Ritt zur Disco-Himmelspforte, bis zur Atemlosigkeit vorangetrieben, de- und rekonstruiert aus Sample-Versatzstücken des klassischen Disco-Erbes und den Insignien des eigenen Stils. Auch eine Lehrstunde, nur mit anderem Inhalt. Wo tue ich was hin, damit es wie funktioniert? Im Ergebnis wieder ein Meisterstück. B2 ist dann schließlich die noch eine geniale Lektion, und zwar in Sachen hypnotischer Eindringlichkeit. Wild Pitch trifft auf Dub trifft auf Chicago-Bounce, keiner der drei war danach wie er vorher war, und der Hörer, glücklich verloren im Sog, schon gar nicht. All das veröffentlichten Damier und Trent in einem ausgesprochenen House-Krisenjahr mit wenig Konkurrenz auf Augenhöhe, was die Wirkung und Verehrung folglich noch erheblich potenzierte. Und so rechtfertigen sich auch mindestens die nächsten 14 Jahre Kult- und Legendenstatus.

de:bug 09/09


Marc Almond – Tenement Symphony

Posted: August 25th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Marc Almond war schon immer der Crooner mit dem künstlerischen Selbstverständnis, das sich mit vollem Einsatz in alle Tragik und Glückseligkeit hineinwirft, die das Leben zu bieten hat. Bei Soft Cell war diese Pose noch ganz mieses Hinterzimmer, billiger Exzess, abseitiger Sex und kaputte Träume, doch danach entschloss er sich seinen liebsten troubled artists zu folgen und zielte wesentlich höher. Jacques Brel, Scott Walker, PJ Proby. Sehr große Stimmen. Sehr große Balladen. Sehr große Posen. Mit sympathischer Zielstrebigkeit baute er sich eine eigene Nische in der Popwelt, in der nichts zu dramatisch, zu schwülstig, zu übertrieben, zu anmaßend oder zu Pierre et Gilles ist. Seine abseitigen Interessen nahm er in diesen Entwurf mit und erweiterte ihn fast dialektisch um Pomp, Glam und Luxus und allerlei Mysterien des Abend- und Morgenlandes. Beim Album “The Stars We Are“ kam er damit etwas überraschend hoch in die Charts, konnte das aber mit den beiden Nachfolgealben nicht wiederholen. Was macht man sodann als ambitionierter Fatalist und Großromantiker? Man macht es gleich noch einmal, nur mit noch mehr Grandezza, und mit wesentlich mehr Aufwand. “Tenement Symphony“ von 1991 ist gleichermaßen konsequent wie größenwahnsinnig, ein Werk der großen Gesten und Widersprüche, dass von einer selbstbewussten Steherqualität durchsetzt ist. Schon der erste Titel “Meet Me In My Dream“ dürfte wohl programmatisch zu verstehen sein, und schon kurz danach kommt thematisch eine ganze Menge zusammen: Liebesunglück- und glück, Rauschzustände zwischen Champagner, Pulver und Pillen, Parksexanonymität, und durchgehender Gefühlsüberschwang. Dave Ball unterstützt ihn wieder dabei, sowie eine illustre Studiomannschaft in Legionsstärke, und die Produktion ist bei aller Opulenz clubbig, schick und zeitgemäß, und harmoniert wunderbar mit Almonds Prachtstimme und seinen schwärmerisch angeschlagenen Geschichten. Die zweite Seite ist dann die eigentliche Symphonie, und sie ist produziert von Trevor Horn, dessen kompromissloseste Phase noch andauerte, man erinnere sich die Remixe zu “Introspective“ zuvor, wo er wie Kubrick und von Stroheim gleichzeitig diktatorisch, mehrmonatig und finanziell wie kreativ völlig überbordend derart epische Rekonstruktionen auf die unschuldige Popwelt losließ, dass man fortan jedem Produzenten den Final Cut verweigerte. Bei “Jacky“ von Brel bzw. Walker marschiert ein Orchester von mindestens 40 Mann auf einem forschen Hi-NRG-Beat zu orgiastischen Höhen, es gibt bei „What Is Love?“ eine merkwürdige Deutung von Chicago House mit San Francisco-Männerchor, dann folgt der Gossenromantik-Klassiker “The Days Of Pearly Spencer“ in einer Version, dessen hemmungslose Überladenheit sich nicht einmal Jimmy Webb zu Glanzzeiten getraut hätte, und dann das Finale Grande mit “My Hand Over My Heart“, ein wahres Ungetüm von einer Ballade, das in meiner Vorstellung mit jedem Crescendo (und davon gibt es viele) jeden musikalischen Kleingeist bis zur Unkenntlichkeit zermalmt, der sich jemals erdreistet hat, sich als vermeintlich gewichtige Komposition vor dem Papierkorb der Musikgeschichte davonstehlen zu wollen. Und ist dieses Album zu dem kommerziellen Hit geworden, der Almond für immerdar in den Olymp seiner Heroen empor schleuderte? Natürlich überhaupt nicht.

Marc Almond – Tenement Symphony (WEA, 1991)

de:bug 09/09


Urbanized Featuring Silvano – Helpless (I Don’t Know What To Do Without You)

Posted: August 18th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , , , | No Comments »

Seit House Mitte der 90er Jahre die Großraumclubs eroberte, befindet sich House mit Gesang in einer erheblichen Schaffenskrise. Wo vorher Hymnen mit schönen Melodien mit Armgeruder im Club mitgesungen wurden, herrscht nun Überforderung hinsichtlich der Diva plus Kirchenchor-Standards und Unterforderung hinsichtlich der Tatsache, dass in dieser Konstellation nicht mehr eingängige Songs in der Tradition von Soul und Disco benötigt werden, sondern nur noch einschüchternde Breitwandspiritualität. Und wenn mich später heute noch ein Blitz aus dem Himmel treffen mag, der Gospel ist schuld. Dabei gibt es eigentlich genug Beispiele, wie man das Thema für alle Seiten gewinnbringend angeht ohne sich in imperativen Grußformeln auf Filterdiscobasis für die Handtaschenklientel zu erschöpfen oder gleich die ganz große Messe abzuhalten. Lovesongs zum Beispiel, die einfach so schön und wahrhaftig sind, dass der Himmel nicht erst beschrieen werden muss damit er sich öffnen möge. Bei dieser Platte von 1992 macht er das jedenfalls ganz von selbst. Ursprünglich von Mood II Swing zur ihrer besten Schaffensperiode ausgetüftelt, machen Masters At Work in ihrem Remix aus dem Song eine herzerweichende Erklärung an die bittersüße Hilflosigkeit, die nur die ganz große Liebe auszulösen vermag. Elegant schwingt er dahin, dieser Track, von wenig mehr zusammenhalten als einem genialen Klavierakkord und diesem überzeugenden Hilferuf von Silvano, der mich aus etwas rätselhaften Gründen immer an eine Garage-Version von Chris Isaaks “Wicked Game“ erinnert. Aber rätselhafte Assoziationen sollte man niemals verleugnen.

de:bug 08/09


World Domination Enterprises – Let’s Play Domination

Posted: August 6th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Oft genug hat man eine Stimmung in der nur kompromissloser Lärm hilft und man eine Platte braucht, die einem mit ungebremster Wucht den Kopf gerade rückt. Ich habe dafür stets dieses großartige, 1988 erschienene Album parat, funktioniert immer. Selten war ein Bandname unprogrammatischer, World Domination Enterprises brachten es nur auf ein paar Singles, ein Studio- und ein Livealbum, aber das macht rein gar nichts, mehr hätte man auch gar nicht verkraften können. Der Sound von World Domination Enterprises ist so massiv, dass es schon fast lächerlich ist. Bass und Schlagzeug sind eine einzige Wand, und dazu kommt dann noch eine Gitarre die in ungefähr so klingt, als würde sie nicht gespielt, sondern mit einer Flex gescratcht. Dazu hat Keith Dobson die weltcoolste Stimme und Haltung, die man sich dazu hätte ausdenken können, und sprechsingt sich hämisch durch seine linken Texte, allesamt triefend vor Zynismus und hinterhältigem Humor. Stilistisch wird Hip Hop, Industrial, Flash Rock, Post Punk, Disco und Dub von hinten in die Beine gegrätscht und selbst die Coverversionen (LL Cool J, U Roy und Lipps Inc.) klingen wie der fiese Auswurf einer kleinstadtgroßen Großfabrik im Ostblock der 70er Jahre. Es schadet einfach nie, wenn man einzigartig ist.

Und hier noch das spinnerte Manifest von der Coverrückseite:
“WARNING
Last year WORLD DOMINATION ENTERPRISES employed over 5 billion people in making 1.4 million brand names in over 700 territories – WORLD DOMINATION ENTERPRISES the global employer
Last Year WORLD DOMINATION ENTERPRISES manufactured and sold 1.4 million different brand names to over 5 billion people in over 700 territories – WORLD DOMINATION ENTERPRISES the home of international commerce
Every year millions of people become dead maimed or diseased as a direct result of our ambitious expansion programmes – a small price to pay for increased profits – WORLD DOMINATION ENTERPRISES getting bigger by sucking you drier”

World Domination Enterprises – Let’s Play Domination (Product Inc.)

de:bug 08/09


Garçons – Divorce (Philips)

Posted: August 4th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , , , , | No Comments »

Dieses 1979 in Zusammenarbeit mit der Downtown NYC-Bastion ZE Records erschienene Mini-Album ist in der Tat so chic dass es schmerzt und räumt nonchalant alle möglichen Punkte auf der nach oben offenen Hipster-Skala ab. Eigentlich als Begleitgruppe von Marie Girard konzipiert, ein Jahr später erschien ebenfalls auf ZE mit einem souveränen hellblauen Lacoste-Polo auf dem Cover das legendäre Debütalbum als Marie et les Garçons, inszenieren sich die Jungs hier als die naiven französischen Gäste der New Yorker Post-Punk-Disco-Szene, sozusagen der Brückenschlag zwischen Les Bains Douches und Danceteria. Ungläubig werden mit Accent die Skyscraper bestaunt und der ganze Glitz der darunter auf Straßenlevel schäumt (25th Street! Broadway!), aber gleichwohl sind die Pariser als feste Größen in der Schicki-Zwischenwelt ihrer Heimat bestens ausgestattet (die Straßenkehrer from outer space-Outfits auf dem Cover? Les Garçons sont habillés par Jean-Carles de Castelbajac). Damals zollten sich die Premiervisagen der Alten und Neuen Welt noch den gebührenden Respekt und deswegen sind sie auch alle für dieses transatlantische Joint Venture zusammengekommen: Ramona Brooks singt im Hintergrund, die ZE-Supremos Esteban und Zilkha produzieren, Bob Blank nimmt auf und DJ Tom Savarese mischt ab. Die Fotos der illustren Beteiligten auf dem Innersleeve rahmen ein Textfeld in dem sich zigmal „Danse-Dance-Danse-Dance“ wiederholt. Für die verständnislosen Außenstehenden fällt nur Häme ab: „Watch the critics when I dance with you, we’re so with it.“ Für den Rest gilt: “Dance, dance, let the French boy dance“. Mehr Geschenk als die Statue of Liberty, und wesentlich besser angezogen.

De:Bug online 08/09


Whirlpool Productions – Brian de Palma

Posted: July 23rd, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Irgendwie kam House in Deutschland lange Jahre nicht in die Gänge. Nix Massenbewegung, nix Exportpotential, nix Sponsorenzielgruppe. Es gab zwar ausreichend Clubs, DJs und Produzenten, die sich von Anfang an mit House beschäftigten und den Sound hegten und pflegten, aber man studierte erstmal eingehend was da kistenweise importiert wurde und verschob den eigenen Einsatz auf später. Die Italiener hatten sich da schon längst zusammengeklaubt, was sie für die sonnigen Fantasiewelten ihrer Großclubs brauchten, in Holland und Belgien wollte man sich schon bald von dem amerikanischem Ausgangsmaterial emanzipieren, und in Großbritannien atomisierte die Hype-Presse bereits alle verfügbaren Stilmöglichkeiten zu Subgenres. In Deutschland hingegen wurde noch eine Weile analysiert, bis sinnigerweise der Dancefloor-Ableger vom Diskursstichwortgeber L’Age D’or diese Phase für beendet erklärte und sich alsbald beherzt daran machte, lose orientiert an der noch relativ jungen House-Historie anderer Länder, eine Reihe von sehr eigenständigen und funktionstüchtigen Veröffentlichungen zu starten. „Brian de Palma“, passend benannt nach dem Regisseur mit den dollsten Nachtclubsequenzen, ist sowohl der erste Höhepunkt als auch eine wegweisende Schnittstelle dieser Entwicklung. Hans Nieswandt, der damals in Worten wie kein Anderer auf den Punkt brachte was an House so wunderbar ist, Eric D. Clark, der immigrierte Glam-Faktor mit dem irritierenden Soul, und Justus Köhncke, der romantische Raketenwissenschaftler des Ganzen, wollten nicht länger zuschauen und nahmen sich ihre gesammelten Nightlife-Erfahrungen, ihre erheblichen Plattensammlungen, ihre durchdefinierten Popforderungen und ihren unverbrauchten Enthusiasmus für die Sache an sich, und bauten mit taufrischem Idealismus an ihrer Musik. Das allzu Offensichtliche wurde dabei vermieden, Mel Tormé oder Steely Dan kamen in die Samplebank, und nicht schon wieder Loleatta Holloway. Und obwohl hier und da DJ Pierre oder DJ Sneak als Inspirationsquelle hervorlugten, bekam man ihn hin, den eigenen Sound. Eine elastische Funkyness, eine lässige Dosis smarter Referenzen, und eine grundsympathische Einstellung im Umgang mit dem Groove. Mit jedem ihrer späteren Alben vergrößerten sie genauso schlüssig und schlau den Spielraum, den sie sich mit diesem Album eröffneten, mit oftmals ebenso sperrigen wie überraschenden Resultaten zwischen Can-Studio und surrealer Charts-Kurzkarriere. Aber diese Verbindung von Kopf und Tanzfläche war nicht mehr ganz so ausschlaggebend, und ich habe das vermisst. Die weitere Laufbahn der drei nach dem Ende von Whirlpool Productions gestaltete sich dann gleichermaßen erwartet wie unerwartet, und es ist gut zu wissen, dass sie allesamt immer noch voll drin sind in der Chose.

de:bug 07/09


It’s Immaterial – Life’s Hard And Then You Die (Siren)

Posted: July 4th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

John Campbell und Jarvis Whitehead bewegten sich in einer skurrilen, von ihnen bis in das letzte Detail durchdesignten Parallelwelt zum aufgeregten Synthpop-Treiben von 1986. Ihren mittelgewichtigen Hit „Driving Away From Home“ hatten sie vermutlich nicht ganz aus Versehen, wie der schon sehr griffige Titel dieses Albums nahe legt. Man betrat beim Hören wie durch eine Luftschleuse ihren blaustichigen Episodenfilm, welcher mit einem Soundtrack ausgestattet war, der mit allen Stilelementen zwischen Country, Folk, Latin und New Wave versetzt werden konnte, ohne auch nur eine Sekunde diesen zugleich kühlen als auch heimeligen, vor allem aber irritierend unverwechselbaren Grundklang zu verlieren, zu dem Campbell mit dieser ausnehmend angenehmen Erzähl- und Singstimme verschiedene Szenarien durchspielte. Ob es um Ausfahrten in die Umgebung ging, Sinnkrisen von Vertretern, Freunde in der Kneipe, Abschwung in verregneten Industriegebieten, schwüle Straßenfeste in der Fremde, oder schlicht um den Raum den man zum Leben braucht, und wie man ihn ausfüllt, stets nimmt Campbell die Rolle des unmittelbaren Erzählers ein. Ein introvertierter Beobachter und voyeuristischer Melancholiker, der Situationen mit präzisen oder komplexen, wie auch ironischen oder versponnenen Worten so treffsicher nachfühlbar macht, dass man in jeden Song nach kürzester Zeit hineinfällt wie Alice in den Kaninchenbau, obwohl das Album eine stringente Atmosphäre hat, die gleichzeitig irgendwie distanziert und dennoch hermetisch ist. Vier Jahre später fuhren sie die Popverpflichtungen des Debüts bei ihrem zweiten, mindestens ebenso brillanten Album „Song“ auf ein Minimum herunter und reisten so tief in ihre eigene Welt, dass kaum noch jemand folgen mochte. Wahrscheinlich wäre es mal wieder dem einen Hit zu verdanken, wenn es nach all den Jahren noch jemand versucht. Aber Hauptsache, es versucht noch jemand.

De:Bug online 07/09


Lil Louis & The World – I Called U (Epic)

Posted: July 4th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Kaum ein anderer in der Clubkultur hat sich so eingehend und brillant mit den Wirrnissen der Liebe beschäftigt wie Lil Louis. Als seine Weggefährten und die Fanbasis sich noch die Köpfe über seine beiden durchweg genialen EPs auf Dance Mania den Kopf zerbrachen, warf er sich vollends in sein Lieblingsthema und verkaufte 1989 Abermillionen von seinem Liebesakt „French Kiss“ an Menschen, denen es weder etwas ausmacht, im Club massiv angestöhnt zu werden, noch dazu in Zeitlupe rauf- und runtergefahren zu werden (ich erinnere mich immer gerne an den Videoclip, wo Aufziehspielzeuge die Tempowechsel nachzappeln). „I Called U“ erzählt kurz darauf die Geschichte danach, und die fünf Versionen ergeben die narrative Struktur eines Mini-Konzeptalbums, in dem Louis die Rolle des von einer abgelegten Liebe Verfolgten einnimmt. „The Conversation“ ist dieser eigenwillige Jazz-House-Track, in dem er ihr am Telefon mit deutlichen Worten klarzumachen versucht, dass ihre Beziehung beendet ist und aus welchen Gründen. Er ist dabei jedoch mit einer offensichtlich hoch neurotischen Gegenspielerin konfrontiert, die seine rationalen Argumente mit bedröhnter Aufdringlichkeit ignoriert. Im Zwischenspiel „But U Went To The Party“ flüchtet Louis aus dieser Sackgasse in den Club, um dann bei „The Story Continues“, einem böse pumpenden Track mit fiebrigem Saxofon, den ganzen Stress auf der Tanzfläche zu bewältigen. Das nächste Zwischenspiel „A Series Of Events“ schildert jedoch die Rache der Zurückgewiesenen, die nach vergeblicher Kontaktaufnahme über Telefon die Clubs absucht, um dann ihre ganze Besessenheit an seinem Auto auszulassen. „Why’d U Fall“ ist der Epilog, in dem Louis sein Unverständnis gegenüber der ganzen Situation in einem unfassbaren Track entlädt, dessen schlingernde Leitmotive noch über Jahre durch die House- und Technogeschichte geistern sollten. Diese Platte ist ein immerwährendes Totschlagargument gegen die Skeptiker, die Clubmusik pauschal konstatieren, nicht über Partyimperative und Funktionalitätsstrukturen hinauskommen zu können, und das Gefühlsleben von Lil Louis war zu jener Zeit derart aufgewühlt, dass er diese Themen noch auf zwei ganzen nicht minder herausragenden Alben zu verarbeiten suchte, bevor er lange Zeit in Schweigen verfiel. Doch er war ganz und gar nicht untätig, und hat all die Jahre an seinem Großprojekt „Two Sides To Every Story“ gearbeitet, einem Buch, dass seine gesamte Odyssee nach der wahren Liebe chronologisiert, und einer CD, die aus Sicht einer Frau darstellen soll, wie ist, sich mit jemanden wie ihm einzulassen. House braucht solche Typen mehr denn je, aber wirklich.

De:Bug Online 07/09


Nicolette Larson – Lotta Love (Warner Bros. Records)

Posted: July 4th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Spätestens seitdem die Gibb-Brüder ab Mitte der 1970er höchst erfolgreich auf Tanzfläche umschalteten, war klar, dass Disco als System offen genug war, auch das Karrieretief von anderen Künstlern zwischen MOR-Soft Rock und Country aufzufangen. Wem Disco in der klassischen Ausprägung zu schwarz oder zu schwul war, konnte alsbald Stücke auf Alben in diesem weiten Feld finden, die sich entweder zaghaft über R&B-Anleihen oder wagemutig über 4/4-Funktionalität an die Glitzerclubs der großen Städte annäherten. Es dauerte gleichermaßen nicht lang bis die dortigen DJs erkannten, dass es der notwendigen Emotionalität ihrer Morgenstunden-Sets absolut nicht schadete, klassische Disco- und Soulballaden mit ein paar flashigen Rockschiebern zu verbinden. Das Grundgefühl zählte, und die Barrieren zwischen den Songwriting-Traditionen waren nicht mehr hoch genug um zu verhindern, dass sich eine Schnittmenge vormaliger Antipoden ergab, an der sowohl jene Freude haben konnten, denen Clubkultur eigentlich nichts bedeutete, als auch jene, denen Rock per se zu unfunky und weißbrotig war. Wenn man sich die gegenwärtige Renaissance von discoiden Rocksongs anschaut, ist das im Prinzip auch so geblieben, auch wenn diese ungleiche Liebesaffäre in der Disco-Ära eine Episode blieb, die allen Beteiligten in der späteren Rückschau eher unangenehm war. „Lotta Love“ von 1978 ist jedenfalls die Krone dieser Schöpfungen. Eine Neil Young-Backgroundsängerin interpretiert einen Song desselben, und wie so oft bei ihm entwickelt sich der Song erst in der Coverversion zu einem atemberaubenden Großereignis (siehe auch die ähnlich gelagerte Version von „Only Love Can Break Your Heart“ von Elkie Brooks). Auf dem dazugehörigen Album von Nicolette Larson ist der Song noch traditioneller Country Rock, schön auch, aber ohne jegliche Dancefloor-Traute. Die ergab sich erst durch den wunderschönen Mix von Jim Burgess, der den Song an den entscheidenden Stellen aufpolsterte und somit zur endgültigen Hymne all derer machte, die an strategisch ungemein wichtigen Punkten der Nacht bzw. des Morgens eine gehörige Dosis Liebe benötigen. Nicht die bedingungslose, überwältigende Liebe, die als Ideal alles in Schutt und Asche legt, aber in der Realität als nicht überlebensfähiges Trugbild verpufft. Es geht um die Liebe, in der man gibt und nimmt, die Liebe, die man sich gemeinsam erschließt, allen Unwegsamkeiten zum Trotz, um davon ein Leben lang gut zu haben.

De:Bug online 07/09


Nature Boy – Ruff Disco Volume One

Posted: June 9th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Seit jeher gibt es diese Typen, die einen untrüglichen Riecher für wichtige Entwicklungen haben. Typen, die in irgendeiner Funktion den Wagen in Bewegung setzen, und dann längst abgesprungen sind, wenn die Mehrheit später einsteigt. Milo Johnson fing 1979 mit Auflegen an und war Teil des legendären Soundsystems The Wild Bunch aus Bristol, dessen andere Mitglieder später groß Karriere machten: Nellee Hooper ging zu Soul II Soul und der Rest wurde Massive Attack. Milo Johnson hingegen machte ebenso erfolgreich und metropolenübergreifend in Mode und Design und wurde sporadischer DJ und Produzent auf hohem Level, der seinem eigenen Erbe 2002 mit einer schönen Mix-CD auf Strut ein schönes Denkmal setzte. Von 1992 bis 1993 produzierte Milo eine Reihe äußerst merkwürdiger House-Platten, deren stilistischer Hintergrund sicherlich bei den Disco-, Electro-, und Dub-Klassikern seiner DJ-Laufbahn auszumachen ist. Zu jener Zeit war House mit Disco-Samples nichts Bahnbrechendes, Legionen von Latino-New-Yorkern hatten eigentlich schon alles ausgereizt was man mit Vocal- und Arrangementschnipseln aus dem Backkatalog der Traditionslabels von Salsoul bis West End und darüber hinaus anstellen konnte, und die große dekonstruktivistische CutUp-Offensive aus Chicago war auch schon in Vorbereitung. Was das Projekt Nature Boy dennoch einzigartig macht, ist die Art und Weise, wie mit den historischen Referenzen umgegangen wird. Durchgehend gibt es eine total kaputte Grundstimmung, die zum einen an Mülleimer-Beats und bis zur Verzerrung aufgedrehtem Bässen liegt, zum anderen daran, dass die Samples teilweise komplett losgelöst vom Originalkontext zu etwas zusammengesetzt werden, dass mit den ursprünglichen Verheißungen von Disco nicht mehr viel zu tun hat. Dieser Eskapismus wird nicht von Edelschampus befeuert, sondern vom billigsten Fusel. Die Samples sind nicht mehr als hinterhältige Lockvögel, Verkehrsschilder die verdreht wurden und einen Weg weisen, den man lieber folgen sollte, denn dort leuchtet nichts mehr und kaum jemand kam je zurück. Ruff Disco in der Tat, im ugliest Edit.

Nature Boy – Ruff Disco Volume One (Black Label, 1992)

de:bug 06/09