Marc Almond – Tenement Symphony

Posted: August 25th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Marc Almond war schon immer der Crooner mit dem künstlerischen Selbstverständnis, das sich mit vollem Einsatz in alle Tragik und Glückseligkeit hineinwirft, die das Leben zu bieten hat. Bei Soft Cell war diese Pose noch ganz mieses Hinterzimmer, billiger Exzess, abseitiger Sex und kaputte Träume, doch danach entschloss er sich seinen liebsten troubled artists zu folgen und zielte wesentlich höher. Jacques Brel, Scott Walker, PJ Proby. Sehr große Stimmen. Sehr große Balladen. Sehr große Posen. Mit sympathischer Zielstrebigkeit baute er sich eine eigene Nische in der Popwelt, in der nichts zu dramatisch, zu schwülstig, zu übertrieben, zu anmaßend oder zu Pierre et Gilles ist. Seine abseitigen Interessen nahm er in diesen Entwurf mit und erweiterte ihn fast dialektisch um Pomp, Glam und Luxus und allerlei Mysterien des Abend- und Morgenlandes. Beim Album “The Stars We Are“ kam er damit etwas überraschend hoch in die Charts, konnte das aber mit den beiden Nachfolgealben nicht wiederholen. Was macht man sodann als ambitionierter Fatalist und Großromantiker? Man macht es gleich noch einmal, nur mit noch mehr Grandezza, und mit wesentlich mehr Aufwand. “Tenement Symphony“ von 1991 ist gleichermaßen konsequent wie größenwahnsinnig, ein Werk der großen Gesten und Widersprüche, dass von einer selbstbewussten Steherqualität durchsetzt ist. Schon der erste Titel “Meet Me In My Dream“ dürfte wohl programmatisch zu verstehen sein, und schon kurz danach kommt thematisch eine ganze Menge zusammen: Liebesunglück- und glück, Rauschzustände zwischen Champagner, Pulver und Pillen, Parksexanonymität, und durchgehender Gefühlsüberschwang. Dave Ball unterstützt ihn wieder dabei, sowie eine illustre Studiomannschaft in Legionsstärke, und die Produktion ist bei aller Opulenz clubbig, schick und zeitgemäß, und harmoniert wunderbar mit Almonds Prachtstimme und seinen schwärmerisch angeschlagenen Geschichten. Die zweite Seite ist dann die eigentliche Symphonie, und sie ist produziert von Trevor Horn, dessen kompromissloseste Phase noch andauerte, man erinnere sich die Remixe zu “Introspective“ zuvor, wo er wie Kubrick und von Stroheim gleichzeitig diktatorisch, mehrmonatig und finanziell wie kreativ völlig überbordend derart epische Rekonstruktionen auf die unschuldige Popwelt losließ, dass man fortan jedem Produzenten den Final Cut verweigerte. Bei “Jacky“ von Brel bzw. Walker marschiert ein Orchester von mindestens 40 Mann auf einem forschen Hi-NRG-Beat zu orgiastischen Höhen, es gibt bei „What Is Love?“ eine merkwürdige Deutung von Chicago House mit San Francisco-Männerchor, dann folgt der Gossenromantik-Klassiker “The Days Of Pearly Spencer“ in einer Version, dessen hemmungslose Überladenheit sich nicht einmal Jimmy Webb zu Glanzzeiten getraut hätte, und dann das Finale Grande mit “My Hand Over My Heart“, ein wahres Ungetüm von einer Ballade, das in meiner Vorstellung mit jedem Crescendo (und davon gibt es viele) jeden musikalischen Kleingeist bis zur Unkenntlichkeit zermalmt, der sich jemals erdreistet hat, sich als vermeintlich gewichtige Komposition vor dem Papierkorb der Musikgeschichte davonstehlen zu wollen. Und ist dieses Album zu dem kommerziellen Hit geworden, der Almond für immerdar in den Olymp seiner Heroen empor schleuderte? Natürlich überhaupt nicht.

Marc Almond – Tenement Symphony (WEA, 1991)

de:bug 09/09


Urbanized Featuring Silvano – Helpless (I Don’t Know What To Do Without You)

Posted: August 18th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , , , | No Comments »

Seit House Mitte der 90er Jahre die Großraumclubs eroberte, befindet sich House mit Gesang in einer erheblichen Schaffenskrise. Wo vorher Hymnen mit schönen Melodien mit Armgeruder im Club mitgesungen wurden, herrscht nun Überforderung hinsichtlich der Diva plus Kirchenchor-Standards und Unterforderung hinsichtlich der Tatsache, dass in dieser Konstellation nicht mehr eingängige Songs in der Tradition von Soul und Disco benötigt werden, sondern nur noch einschüchternde Breitwandspiritualität. Und wenn mich später heute noch ein Blitz aus dem Himmel treffen mag, der Gospel ist schuld. Dabei gibt es eigentlich genug Beispiele, wie man das Thema für alle Seiten gewinnbringend angeht ohne sich in imperativen Grußformeln auf Filterdiscobasis für die Handtaschenklientel zu erschöpfen oder gleich die ganz große Messe abzuhalten. Lovesongs zum Beispiel, die einfach so schön und wahrhaftig sind, dass der Himmel nicht erst beschrieen werden muss damit er sich öffnen möge. Bei dieser Platte von 1992 macht er das jedenfalls ganz von selbst. Ursprünglich von Mood II Swing zur ihrer besten Schaffensperiode ausgetüftelt, machen Masters At Work in ihrem Remix aus dem Song eine herzerweichende Erklärung an die bittersüße Hilflosigkeit, die nur die ganz große Liebe auszulösen vermag. Elegant schwingt er dahin, dieser Track, von wenig mehr zusammenhalten als einem genialen Klavierakkord und diesem überzeugenden Hilferuf von Silvano, der mich aus etwas rätselhaften Gründen immer an eine Garage-Version von Chris Isaaks “Wicked Game“ erinnert. Aber rätselhafte Assoziationen sollte man niemals verleugnen.

de:bug 08/09


World Domination Enterprises – Let’s Play Domination

Posted: August 6th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Oft genug hat man eine Stimmung in der nur kompromissloser Lärm hilft und man eine Platte braucht, die einem mit ungebremster Wucht den Kopf gerade rückt. Ich habe dafür stets dieses großartige, 1988 erschienene Album parat, funktioniert immer. Selten war ein Bandname unprogrammatischer, World Domination Enterprises brachten es nur auf ein paar Singles, ein Studio- und ein Livealbum, aber das macht rein gar nichts, mehr hätte man auch gar nicht verkraften können. Der Sound von World Domination Enterprises ist so massiv, dass es schon fast lächerlich ist. Bass und Schlagzeug sind eine einzige Wand, und dazu kommt dann noch eine Gitarre die in ungefähr so klingt, als würde sie nicht gespielt, sondern mit einer Flex gescratcht. Dazu hat Keith Dobson die weltcoolste Stimme und Haltung, die man sich dazu hätte ausdenken können, und sprechsingt sich hämisch durch seine linken Texte, allesamt triefend vor Zynismus und hinterhältigem Humor. Stilistisch wird Hip Hop, Industrial, Flash Rock, Post Punk, Disco und Dub von hinten in die Beine gegrätscht und selbst die Coverversionen (LL Cool J, U Roy und Lipps Inc.) klingen wie der fiese Auswurf einer kleinstadtgroßen Großfabrik im Ostblock der 70er Jahre. Es schadet einfach nie, wenn man einzigartig ist.

Und hier noch das spinnerte Manifest von der Coverrückseite:
“WARNING
Last year WORLD DOMINATION ENTERPRISES employed over 5 billion people in making 1.4 million brand names in over 700 territories – WORLD DOMINATION ENTERPRISES the global employer
Last Year WORLD DOMINATION ENTERPRISES manufactured and sold 1.4 million different brand names to over 5 billion people in over 700 territories – WORLD DOMINATION ENTERPRISES the home of international commerce
Every year millions of people become dead maimed or diseased as a direct result of our ambitious expansion programmes – a small price to pay for increased profits – WORLD DOMINATION ENTERPRISES getting bigger by sucking you drier”

World Domination Enterprises – Let’s Play Domination (Product Inc.)

de:bug 08/09


Garçons – Divorce (Philips)

Posted: August 4th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , , , , | No Comments »

Dieses 1979 in Zusammenarbeit mit der Downtown NYC-Bastion ZE Records erschienene Mini-Album ist in der Tat so chic dass es schmerzt und räumt nonchalant alle möglichen Punkte auf der nach oben offenen Hipster-Skala ab. Eigentlich als Begleitgruppe von Marie Girard konzipiert, ein Jahr später erschien ebenfalls auf ZE mit einem souveränen hellblauen Lacoste-Polo auf dem Cover das legendäre Debütalbum als Marie et les Garçons, inszenieren sich die Jungs hier als die naiven französischen Gäste der New Yorker Post-Punk-Disco-Szene, sozusagen der Brückenschlag zwischen Les Bains Douches und Danceteria. Ungläubig werden mit Accent die Skyscraper bestaunt und der ganze Glitz der darunter auf Straßenlevel schäumt (25th Street! Broadway!), aber gleichwohl sind die Pariser als feste Größen in der Schicki-Zwischenwelt ihrer Heimat bestens ausgestattet (die Straßenkehrer from outer space-Outfits auf dem Cover? Les Garçons sont habillés par Jean-Carles de Castelbajac). Damals zollten sich die Premiervisagen der Alten und Neuen Welt noch den gebührenden Respekt und deswegen sind sie auch alle für dieses transatlantische Joint Venture zusammengekommen: Ramona Brooks singt im Hintergrund, die ZE-Supremos Esteban und Zilkha produzieren, Bob Blank nimmt auf und DJ Tom Savarese mischt ab. Die Fotos der illustren Beteiligten auf dem Innersleeve rahmen ein Textfeld in dem sich zigmal „Danse-Dance-Danse-Dance“ wiederholt. Für die verständnislosen Außenstehenden fällt nur Häme ab: „Watch the critics when I dance with you, we’re so with it.“ Für den Rest gilt: “Dance, dance, let the French boy dance“. Mehr Geschenk als die Statue of Liberty, und wesentlich besser angezogen.

De:Bug online 08/09


Whirlpool Productions – Brian de Palma

Posted: July 23rd, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Irgendwie kam House in Deutschland lange Jahre nicht in die Gänge. Nix Massenbewegung, nix Exportpotential, nix Sponsorenzielgruppe. Es gab zwar ausreichend Clubs, DJs und Produzenten, die sich von Anfang an mit House beschäftigten und den Sound hegten und pflegten, aber man studierte erstmal eingehend was da kistenweise importiert wurde und verschob den eigenen Einsatz auf später. Die Italiener hatten sich da schon längst zusammengeklaubt, was sie für die sonnigen Fantasiewelten ihrer Großclubs brauchten, in Holland und Belgien wollte man sich schon bald von dem amerikanischem Ausgangsmaterial emanzipieren, und in Großbritannien atomisierte die Hype-Presse bereits alle verfügbaren Stilmöglichkeiten zu Subgenres. In Deutschland hingegen wurde noch eine Weile analysiert, bis sinnigerweise der Dancefloor-Ableger vom Diskursstichwortgeber L’Age D’or diese Phase für beendet erklärte und sich alsbald beherzt daran machte, lose orientiert an der noch relativ jungen House-Historie anderer Länder, eine Reihe von sehr eigenständigen und funktionstüchtigen Veröffentlichungen zu starten. „Brian de Palma“, passend benannt nach dem Regisseur mit den dollsten Nachtclubsequenzen, ist sowohl der erste Höhepunkt als auch eine wegweisende Schnittstelle dieser Entwicklung. Hans Nieswandt, der damals in Worten wie kein Anderer auf den Punkt brachte was an House so wunderbar ist, Eric D. Clark, der immigrierte Glam-Faktor mit dem irritierenden Soul, und Justus Köhncke, der romantische Raketenwissenschaftler des Ganzen, wollten nicht länger zuschauen und nahmen sich ihre gesammelten Nightlife-Erfahrungen, ihre erheblichen Plattensammlungen, ihre durchdefinierten Popforderungen und ihren unverbrauchten Enthusiasmus für die Sache an sich, und bauten mit taufrischem Idealismus an ihrer Musik. Das allzu Offensichtliche wurde dabei vermieden, Mel Tormé oder Steely Dan kamen in die Samplebank, und nicht schon wieder Loleatta Holloway. Und obwohl hier und da DJ Pierre oder DJ Sneak als Inspirationsquelle hervorlugten, bekam man ihn hin, den eigenen Sound. Eine elastische Funkyness, eine lässige Dosis smarter Referenzen, und eine grundsympathische Einstellung im Umgang mit dem Groove. Mit jedem ihrer späteren Alben vergrößerten sie genauso schlüssig und schlau den Spielraum, den sie sich mit diesem Album eröffneten, mit oftmals ebenso sperrigen wie überraschenden Resultaten zwischen Can-Studio und surrealer Charts-Kurzkarriere. Aber diese Verbindung von Kopf und Tanzfläche war nicht mehr ganz so ausschlaggebend, und ich habe das vermisst. Die weitere Laufbahn der drei nach dem Ende von Whirlpool Productions gestaltete sich dann gleichermaßen erwartet wie unerwartet, und es ist gut zu wissen, dass sie allesamt immer noch voll drin sind in der Chose.

de:bug 07/09


Classic Flowers – Whichflower? (Four Roses Recordings)

Posted: July 4th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , | No Comments »

Das Label von Danilo Plessow alias Motor City Drum Ensemble und Sebastian Gaiser alias Mujaba meldet sich zurück, und das mit einer EP, die dem ollen Deep House-Klepper einen ordentlichen Stock zwischen die Beine wirft. „Whichflower?“ ist ein eigenwilliger Groover, der mit dem klassischen Logic-Acapella Vertrautheit antäuscht, um sich dann über verdrehte Beats und ungewöhnlich geschichtete Flächen in andere Gefilde davonzumachen. Als hätte man zeitgemäßen Deep House mutwillig ein Bein gestellt und beim Versuch den Unfallhergang im Studio nachzubilden wäre etwas ganz Anderes entstanden, das viel faszinierender ist. Das gilt auch für die B-Seite „Aclaime“, aber hier werden die tradierten Strukturen noch ein Stück weiter lädiert. Dubbige Ansammlungen von Flächen, die sich wie feiner Nieselregen festsetzen und einzelne Spuren von erheblichen transformierten Instrumenten ziehen versonnen aneinander vorbei, und entladen sich plötzlich in einem psychotisch summenden Zwischenfall. Wirklich ausgezeichnet.

De:Bug 07/09


Hunch – Travel The Earth (Feel Music)

Posted: July 4th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , , | No Comments »

“Travel The Earth” ist im Original ein nächtlicher Zen-Garten im Wolkenbruch, in dem sich im Hintergrund die Mönche in höhere Bewusstseinszustände trommeln, Claps peitschen unvermittelt quer in die Idylle, irgendjemand tupft anmutig eine traurige Gitarre dazwischen, und darüber sirren fremdartige Sounds wie übergroße Insekten. Alles fließt, tropft und prasselt ineinander. Der totale Trip. Labelchef John Dalys Remix klingt vergleichsweise mächtiger und lässt dunklen Bass und Acid durch die meditative Szenerie schlingern, erzielt aber ebenfalls diesen fahlen Sog. Gegen das hier sieht der monatliche Deep House-Durchschnitt in der Tat wie mickerigster Krüppel-Bonsai aus.

De:Bug 07/09


Hunee – Tour De Force EP (W.T. Records)

Posted: July 4th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , | No Comments »

Berlin’s Finest Hunee schreitet auf seiner EP für W.T. auch als Produzent majestätisch die Ländereien zwischen Spezial-Disco und -House ab, die er als DJ schon seit geraumer Zeit gehörig im Griff hat. „Tour De Force“ ist ein verspulter Premium-Boogie auf Billy Frazier-Fundament, der sich mit einem beachtlichem Soundarsenal auf einen langen Weg macht, etliche Haken schlägt und dann unvermittelt in schönsten Lichtungen auftaucht. Bei „Cut Down Trees“ hüpfen die Beats und Basslines wie aufgekratzte Spatzen auf dem Telegraphenmast übereinander und werden periodisch von Abendsonne-Flächen gebändigt, und gute Freunde von Cajual und Relief grüßen im Vorbeigehen von unten herauf. Auf der anderen Seite der grandiose Tiefflieger „Rare Silk“, der sich in der Originalversion an Boo Williams, und im Remix an Chez Damier und Ron Trent anlehnt, und dabei verdammt blendend aussieht.

De:Bug 07/09


It’s Immaterial – Life’s Hard And Then You Die (Siren)

Posted: July 4th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

John Campbell und Jarvis Whitehead bewegten sich in einer skurrilen, von ihnen bis in das letzte Detail durchdesignten Parallelwelt zum aufgeregten Synthpop-Treiben von 1986. Ihren mittelgewichtigen Hit „Driving Away From Home“ hatten sie vermutlich nicht ganz aus Versehen, wie der schon sehr griffige Titel dieses Albums nahe legt. Man betrat beim Hören wie durch eine Luftschleuse ihren blaustichigen Episodenfilm, welcher mit einem Soundtrack ausgestattet war, der mit allen Stilelementen zwischen Country, Folk, Latin und New Wave versetzt werden konnte, ohne auch nur eine Sekunde diesen zugleich kühlen als auch heimeligen, vor allem aber irritierend unverwechselbaren Grundklang zu verlieren, zu dem Campbell mit dieser ausnehmend angenehmen Erzähl- und Singstimme verschiedene Szenarien durchspielte. Ob es um Ausfahrten in die Umgebung ging, Sinnkrisen von Vertretern, Freunde in der Kneipe, Abschwung in verregneten Industriegebieten, schwüle Straßenfeste in der Fremde, oder schlicht um den Raum den man zum Leben braucht, und wie man ihn ausfüllt, stets nimmt Campbell die Rolle des unmittelbaren Erzählers ein. Ein introvertierter Beobachter und voyeuristischer Melancholiker, der Situationen mit präzisen oder komplexen, wie auch ironischen oder versponnenen Worten so treffsicher nachfühlbar macht, dass man in jeden Song nach kürzester Zeit hineinfällt wie Alice in den Kaninchenbau, obwohl das Album eine stringente Atmosphäre hat, die gleichzeitig irgendwie distanziert und dennoch hermetisch ist. Vier Jahre später fuhren sie die Popverpflichtungen des Debüts bei ihrem zweiten, mindestens ebenso brillanten Album „Song“ auf ein Minimum herunter und reisten so tief in ihre eigene Welt, dass kaum noch jemand folgen mochte. Wahrscheinlich wäre es mal wieder dem einen Hit zu verdanken, wenn es nach all den Jahren noch jemand versucht. Aber Hauptsache, es versucht noch jemand.

De:Bug online 07/09


Lil Louis & The World – I Called U (Epic)

Posted: July 4th, 2009 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Kaum ein anderer in der Clubkultur hat sich so eingehend und brillant mit den Wirrnissen der Liebe beschäftigt wie Lil Louis. Als seine Weggefährten und die Fanbasis sich noch die Köpfe über seine beiden durchweg genialen EPs auf Dance Mania den Kopf zerbrachen, warf er sich vollends in sein Lieblingsthema und verkaufte 1989 Abermillionen von seinem Liebesakt „French Kiss“ an Menschen, denen es weder etwas ausmacht, im Club massiv angestöhnt zu werden, noch dazu in Zeitlupe rauf- und runtergefahren zu werden (ich erinnere mich immer gerne an den Videoclip, wo Aufziehspielzeuge die Tempowechsel nachzappeln). „I Called U“ erzählt kurz darauf die Geschichte danach, und die fünf Versionen ergeben die narrative Struktur eines Mini-Konzeptalbums, in dem Louis die Rolle des von einer abgelegten Liebe Verfolgten einnimmt. „The Conversation“ ist dieser eigenwillige Jazz-House-Track, in dem er ihr am Telefon mit deutlichen Worten klarzumachen versucht, dass ihre Beziehung beendet ist und aus welchen Gründen. Er ist dabei jedoch mit einer offensichtlich hoch neurotischen Gegenspielerin konfrontiert, die seine rationalen Argumente mit bedröhnter Aufdringlichkeit ignoriert. Im Zwischenspiel „But U Went To The Party“ flüchtet Louis aus dieser Sackgasse in den Club, um dann bei „The Story Continues“, einem böse pumpenden Track mit fiebrigem Saxofon, den ganzen Stress auf der Tanzfläche zu bewältigen. Das nächste Zwischenspiel „A Series Of Events“ schildert jedoch die Rache der Zurückgewiesenen, die nach vergeblicher Kontaktaufnahme über Telefon die Clubs absucht, um dann ihre ganze Besessenheit an seinem Auto auszulassen. „Why’d U Fall“ ist der Epilog, in dem Louis sein Unverständnis gegenüber der ganzen Situation in einem unfassbaren Track entlädt, dessen schlingernde Leitmotive noch über Jahre durch die House- und Technogeschichte geistern sollten. Diese Platte ist ein immerwährendes Totschlagargument gegen die Skeptiker, die Clubmusik pauschal konstatieren, nicht über Partyimperative und Funktionalitätsstrukturen hinauskommen zu können, und das Gefühlsleben von Lil Louis war zu jener Zeit derart aufgewühlt, dass er diese Themen noch auf zwei ganzen nicht minder herausragenden Alben zu verarbeiten suchte, bevor er lange Zeit in Schweigen verfiel. Doch er war ganz und gar nicht untätig, und hat all die Jahre an seinem Großprojekt „Two Sides To Every Story“ gearbeitet, einem Buch, dass seine gesamte Odyssee nach der wahren Liebe chronologisiert, und einer CD, die aus Sicht einer Frau darstellen soll, wie ist, sich mit jemanden wie ihm einzulassen. House braucht solche Typen mehr denn je, aber wirklich.

De:Bug Online 07/09