1990 war in England ein Jahr wuseliger Umorientierung. Die Sommer der Liebe waren vorüber, Breakbeats standen in den Startlöchern um Acid House bei den Kornfeld-Raves abzulösen, Warp brachte Bleep und Clonks, in London und vor allem Manchester machte man sich daran Indiebands wie die Happy Mondays und Primal Scream mit den noch jungen Errungenschaften der Clubkultur zu versetzen, und UK Clubsoul rollte weiter. ”Electribal Memories“ von Electribe 101 brachte alle diese Umtriebe auf den Punkt, aber nicht im Sinne eines Konglomerats, das möglichst trendkonform alle verfügbaren Stilarten im Albumformat abklappert und dabei kaum über das klassische Popprinzip hinausgeht, ein paar Singles, ein paar Balladen und einen tristen Rest von Füllern zu versammeln. Electribe 101 begriffen ihr Album offensichtlich als ernstzunehmende Gelegenheit, Pop und Club nach ihren Vorstellungen zusammenzubringen, und setzten eher auf anhaltende Verehrung denn auf saisonale Hipness. Ihre Musik ist zwar eindeutig im damaligen Zeitgeschehen verwurzelt, doch die Hektik der Bestrebungen anderer, von der allgemeinen Dancefloorbegeisterung zu einem geregelten Einkommen zu gelangen, ist hier nicht zu finden. Vor allem bietet die kühle Metropolenmelancholie der Musik aber eine perfekte Plattform für die aus Hamburg stammende Sängerin Billie Ray Martin, die in einer Zeit, als Sängerinnen meistens entweder Disco-Überbleibsel auf dem dritten, oder austauschbare Radlerhosenhupfdohlen auf dem ersten Bildungsweg waren, eine Ehrfurcht einflößende Erscheinung war, eher von Nico und der dunklen Seite von Post Punk geschult, als von der imperativen Glückseligkeit gängiger Clubmusik. Billie Ray Martin interessiert sich überhaupt nicht für diese Traditionen, die Liebe von der sie in Tracks wie ”Tell Me When The Fever Ended“ oder ”Talking With Myself“ singt ist vor allem enttäuscht und verlassen, abseitig, einseitig und obsessiv. Und ganz besonders trifft das auf ”You’re Walking“ zu, wo die nächtliche Stadt nur noch hinterhältige Verlockungen bietet, und sich Liebe darin erschöpft, dem Objekt der Begierde nachzustellen, ohne jegliche Aussicht damit mehr zu erreichen als ein paar Schnappschüsse, um die hohlen Fantasien am Leben zu erhalten (eine Version des Tracks heißt nicht umsonst ”Peeping Tom Mix“). Es spricht aber auch für die Intensität der Musik von Electribe 101, dass ausgerechnet beim instrumentalen ”Ambient Groove Mix“ die meisten Schauer über den Rücken laufen. Ohne die Narration Martins wirkt der Track wie ein dunkel-fiebriger Soundtrack, und man findet sich unweigerlich selber in der Rolle des Stalkers wieder, der im günstigsten Observationsabstand seiner Zielperson durch den Regen folgt. Das ist als Hörerlebnis ziemlich harter Stoff, aber auch eines der beeindruckendsten Stücke jener Zeit. Und es sticht in der Popgeschichte heraus wie das Stilett im Stativ von Karlheinz Böhms Kamera in Michael Powells Psychopathenklassiker.
Ich fand immer die Geschichten vom New Yorker Brill Building faszinierend, ein Gebäude in New York, in dem von Ende der 50er bis Mitte der 60er später legendäre Songwriter wie Goffin/King, Greenwich/Weil, Barry Mann, Neil Sedaka und viele mehr in stickigen Winzbüros versuchten, Jugendkultur in großartigen Popsongs abzubilden, den Druck der Stechuhr und der Arbeitgeber nur mit Talent, Belastbarkeit und erheblichen Kenntnissen ihrer Materie die Stirn bietend. So ungnädig diese Arbeitsweise war (alle Beschäftigten wollten eigentlich nur so schnell wie möglich da raus), die örtliche Begrenzung stand großen Gedankenfluchten entgegen, man hörte der Musik ihre anstrengende Entstehung nicht an und viele dieser Songs sind heute Klassiker der Popgeschichte, die perfekte Umsetzung der Träume ihres Zielpublikums. ”Songs For Joy“ ist ein Konzept, mit dem Carsten ”Erobique“ Meyer, Jacques Palminger und Chris Dietermann jeweils einmal in den letzten drei Jahren das Berliner Maxim Gorki Theater besetzt hatten. Jeder war eingeladen, Ideen, Fragmente und Texte dort abzugeben, und in den folgenden zwei Wochen machten sich die drei daran, daraus Songs entstehen zu lassen, die dann in einer Abschlussgala aufgeführt wurden, unter Mitwirkung der vom Musikbusiness größtenteils unvorbelasteten Einsender. Die Herangehensweise war bzw. ist dabei sicherlich etwas ungezwungener als in der obigen Hitfabrik, aber der Anspruch, in kürzester Zeit aus einer Fremdidee einen möglichst zeitlosen und großartigen Popmoment zu schaffen, ist auch hier unverkennbar, und der lässt sich nur einlösen, wenn man Pop wirklich begriffen hat. Dieses Album ist eine Werkschau der unter diesen Bedingungen entstandenen Songs, und es löst den Anspruch nicht nur ein, es ist womöglich das aufrichtigste, unmittelbarste, smarteste, rührendste und liebevollste Statement, das in diesem Land erscheinen konnte, wo Pop immer noch regelmäßig entweder an diffusen Internationalitäts- oder Diskursminderwertigkeitskomplexen zerschellt. Die Kombination der unbedarften aber dadurch absolut nicht minder klugen Texte mit dem Kompositions- und Improvisationstalent der Gastgeber, von unzähligen Bühnenauftritten und innig geliebter und gelebter Musik zwischen Northern Soul und Tropicália, Style Council-Popperpop, Pazifiksonne-Softrock und Chansondisco, großen Balladeuren und vergessenen Randfiguren befeuert, ist schlichtweg wundervoll, und stellt der nicht schweigenden Mehrheit hiesiger Popproduktion mit Ursprung zwischen Fließband und Diskussionsrunde ein seitenlanges Armutszeugnis aus. Mancher kann diese Musik vielleicht nicht verkraften, ohne sich einen Ironiemasterplan oder sonstige Schattenkonzepte einzureden. Aber mancher sollte vielleicht einfach mal versuchen wirklich zu hören, was es hier zu hören gibt: große Umarmungen, große Herzen und große Freude.
So viel zum Thema trippig. Könnte ich dafür schon anwenden den Begriff.
Ist das eine Platte über die Du im Plattenladen nachdenken würdest?
Wahrscheinlich ja. Möchte sie aber noch ein bisschen länger hören.
Bist du jemand der Platten im Laden etwas länger hört?
Ich höre gerne ein bisschen länger, weil ich ansonsten gerne mal etwas nicht entdecke, und dann denke „das ist es nicht“. Aber dann merke ich, dass sich das entfaltet, wenn man ein bisschen länger reinhört. Umgekehrt ist es mir auch schon mal passiert, dass ich ganz schnell reingehört hab und mich zuhause frage, was ich da mitgenommen habe. Das hier mag ich von der Stimmung ganz gern. Die hat schon ein bisschen was Düsteres, aber gleichzeitig auch was ganz Entspanntes, wo man sich reinlegen und dahin fließen kann.
Ein Soundtrack-Feeling?
Ja, auf jeden Fall. Da kann man schon mal ein bisschen wackeln, das könnte ich mir für ein Anfangsset super schön vorstellen. Zum Reinkommen.
Das ist die neue Lowtec.
Jetzt wo du es sagst finde ich es gar nicht so abwegig. War jetzt überhaupt nicht der Erste, der mir einfiel, aber doch schön.
Terre Thaemlitz – Hush Now (DJ Sprinkles Broken Record Mix) (Public Record) 2006
Alt?
Ulkigerweise nicht. Das ganze Knacken gehört konzeptuell dazu und ist ganz schön übertrieben. Also wir haben hier Jemanden, der schon ein sehr komplexes Verhältnis zur Clubkultur hat.
Obwohl ich sagen muss, dass ich die Knackgeräusche im Moment dezenter angenehmer finden würde. Also es nervt mich gerade. Am Anfang dachte ich noch: „Oh, da bin ich wirklich voll reingefallen, dachte halt es ist ein altes Stück.“ Das ist mir zu inflationär eingesetzt. So ein bisschen ab und zu hätte ganz viel Charme haben können. Aber so ist es: „Guck mal, ich hab eine lustige Idee.“
Der Mixtitel ist „Broken Record Mix“.
Das ist mir jetzt gerade zu gewollt.
Und wie findest du die Musik ansonsten?
Die könnte hübsch sein. Ich höre ich mir aber lieber eine alte Platte an mit ein bisschen Knistern. Und ich finde das Vocal-Sample total blöd, ist so ein bisschen cooles „Hey Hey Hey“. Es kommt auch zu oft.
Das ist Terre Thaemlitz als DJ Sprinkles.
Das find ich erstaunlich, weil ich den eigentlich toll finde. Die Idee an sich wäre nicht schlecht, aber es ist mir überall zuviel Gewürz drin.
Aber es geht schon in die Richtung von „Midtown 120 Blues“.
Ich würde das Sample rausnehmen und das Knistern reduzieren. Dann wäre es echt super. Hat eine schöne Stimmung und einen tollen Oldschool-Charakter.
Die Art von Bassline benutzt er gerne, erinnert an „Nude Photo“ von Derrick May.
Das finde ich ja ganz toll. Ah, jetzt wird es auch mit dem Knistern weniger. Vielleicht gibt es das auch als „nur leicht angestaubte Platte“-Mix.
Das ist nur als MP3-File erschienen.
Ohne Sample und mit weniger Knistern wäre es der Hit. Aber es gibt tatsächlich andere Tracks von ihm mit ähnlichen Basslines. Wirklich schade, weil ich den sonst ganz grandios finde.
Aber es ist eigentlich eine sehr konsequente Haltung, etwas so Schönes zu verhunzen. Vielleicht bringt er es ja noch ohne Knacken heraus.
Konsequente Haltung ist natürlich ein Argument, aber ich frag mich immer, was eine konsequente Haltung nützt, wenn es mich nervt. Und ich finde das so schade, weil das ohne das Knacken garantiert eine Platte wäre, die ich kaufen würde. Read the rest of this entry »
ZE Records, die beste Schnittstelle zwischen Post Punk und Disco die man sich überhaupt jemals herbeisehnen konnte, ist nach wie vor faszinierend wenig ausgelaugt von fortlaufenden Retrospektiven und allgemeinem Beifall. Die Musik war einfach zu gut, von dem unsäglichen Davitt Sigerson mal abgesehen, den ich mir immer als eine Rockparodie schön gedacht habe, der aber leider wirklich nur Rock war, und wirklich kein guter. 1980 war das Label auf dem ersten kreativen Höhepunkt, August Darnell wurde zusammen mit Andy Hernandez aus den Trümmern von Dr. Buzzard’s Original Savannah Band herübergeholt, und zusammen wurden sie als Kid Creole und Coati Mundi zu Hausproduzenten erkoren. Schon das erste Album von Kid Creole & The Coconuts, ”Off The Coast Of Me“, machte klar, dass Darnell keineswegs daran dachte, seine textlichen, musikalischen und konzeptuellen Geniestreiche bei Dr. Buzzard und Machine zurückzulassen, er überführte sie einfach in den neuen Lebensraum. Und da sein Talent zu dieser Zeit vor brillanten Ideen unbändig umhersprühte, gab es nicht die geringsten Abstoßungsreaktionen. Demzufolge war es natürlich eine Prachtidee, ihn mit dem Debütalbum von Cristina zu betrauen, einem sehr schicken Mädchen aus gutem intellektuellem Hause, das vorher vornehmlich smarte Texte für die lokale Hipsterpresse verfasste, und dann nach Überredung des Labelmitinhabers und späteren Ehemannes Michael Zilkha die Single ”Disco Clone“ aufnahm, eine furiose Ansage an die im Aussehen und Persönlichkeit gleichgeschalteten Hühner im Club, mit kongenialer Musik, die sehr zickig gängige Disco-Arrangements mit schrägen Refrains und merkwürdigen Latin-Eskapaden verband. Cristina hatte eine eher begrenzte Singstimme, aber sie strahlte im Überfluss alles aus, was einer Diva der Disco-Gegenkultur förderlich war: gebildete Cleverness, kalkulierte Distanziertheit und nicht zuletzt fragiler Sex-Appeal, der durch treffsicher modisches Auftreten noch forciert wurde. Darnell war natürlich schlau genug, sie die ganze Gegensätzlichkeit und Komplexität ihrer exaltierten Kunstfigur ausleben zu lassen, und ergänzte ihre Posen mit luftig-beschwingtem Latin-Disco und exotischen Dschungelklängen auf der absoluten Höhe seines Könnens. Dadurch ergab sich, dass Cristina immer glaubwürdig war, sei es als Disco Clone-Fortsetzung in Polnareffs ”La Poupée Qui Fait Non“ oder als frustrierte Strohwitwe in ”Blame It On Disco“, und vielerlei andere tolle Rollen mehr. So perfekt kam das danach nicht mehr zusammen, die Musik ihres zweiten, von Don Was produzierten, Albums hatte andere Qualitäten, konnte jedoch mit der schlauen City-Dekadenz ihrer Texte nicht mehr mithalten, und sie zog sich wieder aufs Schreiben zurück. Was für eine Verschwendung!
Wie schon bei Acid House interpretierte man in England die amerikanischen Entwicklungen auch bei Deep House etwas anders. Diese EP von 1992 gehörte zu den ersten bedeutenden Versuchen, die US-Originale des sanften Sounds der frühen 90er auszulegen, die besonders in New York insbesondere von Legenden wie Wayne Gardiner und vielen anderen Hispano-Jungtalenten auf Labels wie Strictly Rhythm, Nervous, Nu Groove und zahlreichen Kleinstlabels ausgelebt wurde. Weiche Kicks, warme Akkorde, bequem identifizierbare Vocal-Samples und allerlei Zierrat im Arrangement war das Gebot der Stunde, was später oft dazu führte, das man diese Spielart von House despektierlich als Flötenhouse verunglimpfte. Adam Holden, Rob Mello und Zaki Dee waren keine Stümper auf dem Gebiet, sie brachten es später zur beachtlichen Weihe eines kultisch verehrten Gastspiels auf Prescription, und auch hier war schon alles im Lot. Die melancholische Emotionalität und Leichtigkeit im Klang der US-Vorbilder wurde mindestens eingeholt, House wurde hier gespielt und nicht zusammengebaut, und sorgte auf so mancher Tanzfläche für Momente voller selig geschlossener Augen. Im Vergleich griffen die Jungs aber auch die Errungenschaften vor der eigenen Tür auf, insbesondere Joey Negros Art Disco mit Deep House zu verbinden, scheint auch hier durch, und bei aller Tiefe haben diese Tracks auch diesen wohligen mediterranen Schimmer, den die italienischen House-Produktionen der frühen 90er auf der Insel hinterlassen hatten. In Anbetracht des übersichtlichen englischen Sommerwetters ist diese EP Eskapismus der höchsten Edelstufe, und enthält darüber hinaus mit „Explain It“ einen der erschütterndsten House-Lovesongs ever, über den die Originators in den US-Großstädten explizit und zeitlebens den Mantel neidvollen Stillschweigens ausgebreitet haben. Dem Vergessen gilt es nun wirklich entgegen zu gehen, mit dem richtigen Talent geht House immer noch überall, auch wenn die Urheber dieses Wunderwerks in den Folgejahren mit die Regel bestätigenden Ausnahmen lieber zu den Gründerväter von Boompty zählten anstatt die internationale Deep House-Bruderschaft in Schach zu halten.
Als die die erste Großphase von House in Chicago, vertreten durch die ehemaligen Speerspitzen DJ International und Trax, mit den 80ern endete, kam eine längere Zeit der Umorientierung, die rückblickend sehr chaotisch war. Mit den alten Partnern wollten die Künstler nichts mehr zu tun haben, es hatte einfach zu viele schiefe Verträge gegeben, und die anfänglichen Chartsausflüge der Pioniere erwiesen sich zusehends als flüchtig. Diejenigen, die schon dort gewesen waren, kamen mit prahlerischen Berichten zurück, doch eigentlich war die Tür bereits wieder zu, und man konnte sie mit Unterschubladen wie Hip House u. ä. nicht wieder öffnen, und die vormalig einladenden Gesten aus Übersee gingen jetzt in Richtung Detroit. Ein paar unverzagte Jungs jedoch beriefen sich nun auf die Ursprungsqualitäten von Chicago House, und marschierten schnurstracks dorthin zurück. Die Entschlackungskur ging von Labels wie Dance Mania und Cajual/Relief aus und machte schnell die Runde. Die verdrogte Leidenschaft und Experimentierfreude Ron Hardys stand abermals Pate, und dessen radikal funktionale Tape Loops wurden in Erinnerung zurückgerufen. Demzufolge wurde die Musik zu Tracks abgebaut, monoton und unbehauen, billigst produziert, und Disco, die Grundlage des Ganzen, wurde höchstens in abstrakten Fetzen eingearbeitet. Kurzum, House zerlegte sich selbst in seine Einzelteile, nahm ein paar Erkenntnisse der noch jungen Techno-Geschichte mit dazu, und wurde mit äußerst reduziertem Aufwand erneut auf die Reise geschickt, in unzähligen Versionen. Und auch wenn haarsträubende Pressungen und luschige Programmierung noch heute den meisten DJs zu schaffen machen, das Gefühl der Stücke war wieder echt und zwingend, und die Intensität so offensichtlich, dass die Klassiker dieser Zeit erstaunlich gut gealtert sind und heute im Feldzug gegen Plugin-Sauberkeit immer noch eine gern genommene Alternative und Inspirationsquelle bieten. Einer der Gewinner dieser zweiten Chicago House-Welle war DJ Sneak, der damals noch bei Gramophone Records arbeitete, dem Epizentrum der Geschehnisse, und sich dort wohl eingehend Gedanken darüber machte, wie er zum Fortgang des Sounds beitragen wollte. Seine zweite Platte von 1994, die Beetz-N-Noisez EP, hatte dann schon alles vorformuliert, was ihn später für lange Zeit zum Star machte: noch vertretbare Reste von Trackstyle-Booty-Sexismen, Disco, in rhythmisch eingesetzten, bis zur Unkenntlichkeit entstellten Sampleschlaufen, die nur selten länger als zwei Takte Zeit hatten, und allerlei anderer Krach. Was da an Einzelelementen zu hören war, war keineswegs neu, aber wie er es zusammensetzte schon. Es ging nur noch um den direkten Weg, alle ablenkenden Schnörkel im Arrangement waren entfernt, der Rest wurde solange ins Hirn gehämmert, bis man sich den Signalen nicht mehr entziehen konnte. Zudem vermied Sneak den laxen Umgang seiner Weggefährten mit dem Produktionsprozess. Seine Tracks klangen dick, klar, akzentuiert, ihr Klang war neben der Struktur ein weiterer entschiedener Bestandteil der Wirkung. Dass er aber auch ohne den Sample-Baukasten auskam bewies „Fear The World“, ein hundsgemeiner, dunkler Brocken von einem Track, der nur mit einer hypnotischen Tonschlaufe und Start-Stop-Beats ausgestattet so beängstigend durch den Club walzt, dass die Flächentraditionalisten am spießigen Ende von House sich vermutlich wünschen, er wäre nie erschaffen worden. Denn House kann eigentlich alles, auch wenn es scheint, dass es heutzutage nicht mehr jeder wissen soll.
Es wurde in den letzten Jahren gehörig Schindluder getrieben mit dem Wild Pitch-Begriff. Hunderte von Tracks, die einfach nur lang und im Aufbau etwas ausladender Natur waren, wurden von faulen Journalisten in diese Schublade gesteckt. Dabei ist Herkunft und Machart von Wild Pitch club- und musikhistorisch in guter Quellenlage. Eine Gruppe von DJs in New York, u. a. Bobby Konders, Victor Rosado, Kenny Carpenter, John Robinson, David Camacho, Timmy Richardson und eben DJ Pierre, versuchten mit einer Party-Reihe namens Wild Pitch die Lücke zu schließen, welche mit der Schließung der Paradise Garage im Jahr 1987 einherging. Die Musik dazu war ähnlich wie in Levans Legendenstätte, nur der Anteil von Reggae und House war gestiegen. DJ Pierre verarbeitete seine Erlebnisse dort 1990 in dem Track ”Generate Power“, und entwickelte dafür eine neue Stilausprägung von House, die er nach dem Club benannte. Das Grundprinzip war im Grunde genommen einfach. Über etwas ungelenke Beats, die diesen speziellen watscheligen Groove entwickeln, schichtete er im gemächlichen Takt von mehreren Minuten Element über Element: Bass, Akkorde, Ravesignale, Stimmen, Perkussion, Zerrsounds, schließlich stehende Strings, alles was recht war, immer schön eins nach dem anderen, immer noch eine Schippe drauf. Das Ganze entwickelt in der Summe eine hypnotische Sogwirkung mit strikter Vorwärtsrichtung, die sich mit jedem addiertem Element potenziert und nach und nach, scheinbar endlos und doch immer intensiver, einem Höhepunkt entgegensteuert, sich dann imposant entlädt, und danach wieder behutsam heruntergefahren wird. Das erinnerte nicht von ungefähr an sehr guten Sex, wenn es gut gemacht war klang es auch so. Pierre begriff schnell, dass er nach seinem Geistesblitz mit den modulierten Bassklängen der Roland TB-303, aus denen dann Acid House wurde, hiermit einen weiteren, noch nie da gewesenen Sound parat hatte, den er in den Folgejahren konsequent verfeinerte. Und wie bei Acid House ließen sich andere Produzenten von der Idee anstecken. Leute wie Roy Davis Jr., Spanky bei Strictly Rhythm, Maurice Joshua, Nate Williams und DJ Duke bei Power Music, dann etwas szeneexterner Junior Vasquez oder X-Press 2 und zahllose weitere Epigonen. Und wie immer war das Prinzip dann irgendwann ausgereizt, war vom ganzen Interpretieren ganz ausgeleiert, ließ sich nicht mehr mit neuen Trends verknüpfen. Und wie immer wurde es dann irgendwann später wieder hervorgeholt, und mit frischen Ideen versetzt klappte es dann auch wieder. ”Muzik“ von 1992 ist Wild Pitch der klassischen Phase im Moment seiner höchsten Vollendung. Eine Lehrstunde in Aufbau und Wirkung. Wer immer sich gegenwärtig Wild Pitch auf die Fahne schreiben möchte, möge doch bitte vorher hier vorbeischauen, denn von den Siegern lernen, heißt siegen lernen.
Auch wenn er vermutlich niemals aus dem Kollektivgedächtnis der House-Liebhaber verschwinden wird, es soll hier, aus zu immer gegebenen Anlass, abermals an den legendärsten Abtrünnigen in der Geschichte von House erinnert werden: Bobby Konders. Er mastermixte sich bis Anfang der 90er Jahre bei New Yorks Radiosender WBLS einen klangvollen Namen mit House, Reggae, Hip Hop und Disco-Klassikern, dann erschütterte er in einem überschaubaren Zeitraum von 1989 bis 1993 die Clubkultur mit Platten, in denen er die oben genannten Musikstile zu Produktionen verknüpfte, die immer noch ihresgleichen suchen. Seine Soundidee klingt in der Theorie simpel, war aber in der Ausführung zum Verzweifeln originär. Konders injizierte die Bassschwere und das Raum- und Zeitgefühl von Dub in den House-Sound, reicherte dies mit der Tiefe und Virtuosität von Peter Daous Keyboards an, dem wohl klassischsten aller New Yorker Studiomusiker der dortigen Szene, und erzeugte so eine Musik, die gleichzeitig drücken und schweben konnte, und bei aller rohen Unmittelbarkeit stets erhaben und überlegen schien. Selbst bei einer etwas wirr anmutenden Abfolge von Remix-Auftragsarbeiten zwischen den Associates, Foremost Poets bis hin zu Herb Alpert, ließ sich dieses Patentrezept problemlos übersetzen, stets war das Ergebnis der pure Bobby Konders-Zauber, in bestechend konsistenter Qualität. Diese EP von 1990 ist das Manifest dieser Schaffensperiode. Egal ob dubbiger Acid („Nervous Acid“), deeper Flöten-House (“The Poem“), technoider Freestyle (“Let There Be House“), oder rootsiger Hypno-House (“Massai Women”), mit den dazugehörigen Versions, jeder der sechs Tracks wurde zu einem Klassiker, fortwährendes Zeugnis vom immensen Talent eines Produzenten, seine Vorlieben und Ideen scheinbar mühelos in einen Trademark-Sound zu transferieren, der stets gültig bleibt, und an dem sich bis in alle Zeiten die Epigonen die Zähne ausbeißen werden. Und was macht das Genie, das viel besungene? Es pfeift auf die bedingungslose Verehrung seiner Anhängerschar, legt sich auf seine erste, größere Liebe zu Reggae und Dancehall fest, und produziert nie wieder einen House-Track. Keine Retrospektiven, Überredungskünste oder Gagenangebote, die sich zu Clubkultur verhalten wie Abba zu Pop, haben daran etwas ändern können. Es hat natürlich auch nicht geholfen, dass seine Karriere in diesem… anderen… Betätigungsfeld seiner Wahl ähnlich legendär und einflussreich verlief, und wesentlich mehr Geld einbrachte. Was bleibt ist ein Werk von erdrückendem Ausnahmestatus, und die Erkenntnis, dass es niemals wieder vorkommen sollte, dass jemand von solchen Gaben einfach abspringt. Von noch so einer Verschmähung, solch einem tiefen Schock, würde sich House wohl nicht mehr erholen können.
1988, im Blütejahr von Acid House, war die Sachlage eigentlich klar. In den USA war Acid roh und funky und entschieden billig-analog, die Chicago Originators allerdings schon auf dem Sprung zum nächsten Ding (Hip House vorerst, da lässt sich die Geschichte nicht klittern), und Detroits Brüder im Geiste machten etwas ganz Anderes aus der Vorlage. In England hingegen griffen die traditionellen Mechanismen der Hype-Presse und Acid wurde zur Bewegung. Und diese war in Klang und Mode überwiegend Pop. Im Gegensatz zu den amerikanischen Ur-Tracks, die voll in ihrer Funktionalität aufgingen, kam man auf der Insel nicht ohne den stilistischen Mehrwert aus. Also wurde alles day-glo, Smileys, Acid Ted und Space Cadet, und man hielt Radlerhosen und Bandanas für ein unbedenkliches Outfit. Man brauchte erneut Gesichter, und im Rückenwind von Yazz, Baby Ford, D-Mob quietschten und blubberten Varianten in die Charts und Clubs, die mit der experimentellen Ausprägung des Ausgangsmaterials nicht mehr viel zu tun hatten. Und dann kamen 808 State aus Manchester mit ihrem Debütalbum ”Newbuild“, einer komplett anderen Interpretation all der Zufallsklänge, die sich mit einer 303 erzielen ließen. Graham Massey, vormalig Mitglied der Post Punk-Veteranen Biting Tongues, Martin Price, Besitzer des legendären Plattenladens Eastern Bloc und Gerald Simpson, das Voodoo Ray-Wunderkind, hatten offensichtlich weder Interesse daran, den Sound aus Chicago zu kopieren, noch ihn mit käsigen Samples zu Top of the Pops-Material umzubiegen. Ihr Entwurf war kalt und irre, ein einziges manisches Flirren, das bereits von den komplexen Rhythmen vorangehetzt wurde, die Markenzeichen der Band blieben. Wo die Boulevardpresse sich mit Drogenvorwürfen gegen die vergleichsweise charmanten aber eher harmlosen Hits der Szene warm schoss, war eigentlich hier der wahre Feind. Musik, die gleichermaßen klang wie ein weitäugiger Rausch im Strobonebel der Clubs, sowie eben auch ein weitäugiger Rausch inmitten der grauen Fiesheit mancher Gegenden nordenglischer Städte, dessen Stumpfheit die Kids im Strobonebel der Clubs bekämpfen wollten. Der komplexe Irrsinn von ”Flow Coma“ oder ”Sync/Swim“ hat nichts von seinem Schockpotential eingebüßt, und ebnete den Weg derer, für die die Clubmusik der folgenden Jahre nicht mit Behaglichkeit einherzugehen hatte, also in etwa das Bindeglied der Hinterhältigkeit und Radikalität von Cabaret Voltaire und Konsorten und Aphex Twin und Konsorten, und dann wieder zurück nach Chicago zu Traxx und Jamal Moss. Wie so oft ließ sich der Intensitätslevel des Erstlings nicht halten, wie so oft probierte man sich danach mit anderen Ideen aus, man überwarf sich, man ging getrennte Wege, und man produzierte das nächste Meisterwerk, in anders aber mindestens ebenso bedeutend, ”Automanikk“ hier, und ”Ninety“ da. Der Stoff, aus dem die Träume sind.
Die Faszination der Labels Prescription und Balance ist weiterhin ungebrochen. Erfolgreiche Reissues, irrsinnige Online-Marketplace-Preise und zahllose Versuche des internationalen Nachwuchses in unterschiedlicher Fallhöhe, die Magie der klassischen Veröffentlichungen für das eigene Profil abzuwaschen, künden immer aufs Neue davon und selbst das lange Schweigen von Chez Damier und Ron Trents fortwährende Abstecher ins jazzig-spirituelle Dudel-Muckertum ließen den Glanz ihrer Großtaten nie verblassen. Es erscheint mir etwas sinnlos aus dem Katalog eines der klassischsten Deep-House-Labels den definitiven Klassiker zu bestimmen, da hat jeder seine eigene Geschichte (wen es dennoch interessiert, bei mir wäre es “Forever Monna“, aus verschiedensten Gründen). Also soll es hier um “The Nature Of Retribution“ gehen, aus dem einfachen Grund, dass diese Platte zum Zeitpunkt ihres Erscheinens 1995 eine Art Rückschau auf die eigenen Karrieren war, und gleichzeitig alles aufwies, was diese zumindest im Kanon von Deep House für immer andauern lassen wird. Alles was des Afficionados Kultdetektor fuchsig macht, ist hier vertreten: Die Platte verzichtet vollkommen auf Credits. Keine Titel, keine Autoren, nix. Wozu auch, es ist offensichtlich wer und was hier dahinter steckt. In neuen Versionen schaut Chez Damier noch mal bei seiner legendären 49 auf KMS und Chuggles vorbei, und Ron Trent bei Nagual. Dazu gibt es noch einen für sie typischen, luftigen House-Gospel, der vermutlich eine Gemeinschaftsproduktion ist. Was sich hier wie eine relativ profane Vorgehensweise einer überschaubaren Werkschau liest, versammelt jedoch eine Ansammlung von Tracks, die bis heute alles in den Staub schmettern was ihren Weg kreuzt, in Neuversionen, die mindestens in der Lage sind das Gleiche anzurichten. A1 ist eine geradezu frustrierende Lehrstunde darin, mit wie wenig man wie viel erreichen kann. Ein Beat, ein paar Akkorde, ein versprengtes Vocal-Sample. Fertig ist das Meisterstück, auch wenn es, wie auch schon bei früheren Tracks der Labels der Fall, hier in einer Kürze zum Verzweifeln fast nur skizziert wird. A2 ist der wilde Ritt zur Disco-Himmelspforte, bis zur Atemlosigkeit vorangetrieben, de- und rekonstruiert aus Sample-Versatzstücken des klassischen Disco-Erbes und den Insignien des eigenen Stils. Auch eine Lehrstunde, nur mit anderem Inhalt. Wo tue ich was hin, damit es wie funktioniert? Im Ergebnis wieder ein Meisterstück. B2 ist dann schließlich die noch eine geniale Lektion, und zwar in Sachen hypnotischer Eindringlichkeit. Wild Pitch trifft auf Dub trifft auf Chicago-Bounce, keiner der drei war danach wie er vorher war, und der Hörer, glücklich verloren im Sog, schon gar nicht. All das veröffentlichten Damier und Trent in einem ausgesprochenen House-Krisenjahr mit wenig Konkurrenz auf Augenhöhe, was die Wirkung und Verehrung folglich noch erheblich potenzierte. Und so rechtfertigen sich auch mindestens die nächsten 14 Jahre Kult- und Legendenstatus.
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