Es war mir lange Zeit ein wenig rätselhaft, warum ich es von den Small Faces, über Suggs bis hin zu Mike Skinner immer großartig fand, wenn Engländer unbekümmert im Dialekt ihrer Herkunft singen, wohingegen mich die Protagonisten dieses Estuary English-Poptums so gut wie gar nicht interessierten. Der Erfolg des Stils bei Lena Meyer-Landrut (in der fiktionalen Variante) und ihren Vorgängerinnen von Kate Nash bis zu Adele, und mein überwiegendes Desinteresse daran, ließen mich schon befürchten, ich fände es mittlerweile chauvinistisch ganz generell unschicklich und vulgär, wenn Mädchen ihren unmittelbaren Kulturraum ins Mikrofon übermitteln, und hätte das auf die entsprechenden männlichen Gegenparts prophylaktisch gleich mit ausgeweitet. Jack Peñate, den man sehr grobmaschig und eher chronologisch in diesen Kontext einsortieren könnte, zeigte hingegen, dass man vor allem einfach erstmal Pop in einer gewissen Qualität hinbekommen muss, damit der Sprachgestus nicht unangemessen, oder einfach nur affektiert klingt. Jack Peñate erwies sich in dieser Hinsicht schon früh als Hoffnungsträger mit einigem Potential. Erst wurde er als überdrehter Enkel von Two Tone und The Jam eingereiht, und er machte grundsympathische Videos, in denen er zeigte, wie toll auch ein Spätgeborener gleichzeitig singen, Gitarre spielen und tanzen kann. Aber er verschwendete auch lässig eine niederschmetternde Ausnahmeballade als Hidden Track seines Debütalbums („Learning Lines“ in der Akustikversion), und schien überhaupt störrisch und begabt genug zu sein, um allen Vertrauensvorschuss zu rechtfertigen. Und tatsächlich, schon mit seinem zweiten Album „Everything Is New“ von 2009 legte er so richtig hin. Mit genauso viel Tumult und Überschwang wie vorher preschte er nun in Richtung Afrika, Brasilien und Dancefloor davon, und verband verwirrte Psychedelik mit weiteren großen Popmomenten. „Tonight’s Today“ war der erste Single-Vorbote, eine merkwürdige Hymne an den Punkt exzessives Feierns, an dem jegliche zeitliche, örtliche und gesundheitliche Orientierung in einen Zustand umschwappt, von dem man noch lange gut haben wird, oder schlecht. Eigentlich könnte es der Theme Song aller Rund-um-die-Uhr-Hedonisten sein, die am Folgemittag ohne Ahnung von oben, unten, und links und rechts an der kopfschüttelnden arbeitenden Bevölkerung vorbeitaumeln, aber für die meisten von ihnen enthält er vermutlich zuviel Musik, und zuviel Worte. Wer außer ausgeprägten Überzeugungstätern möchte schon eine hundertprozentig zutreffende Bestandsaufnahme hören, wenn man sich auch mit ein paar stereotypen Losing Control-Slogans bemuttern kann? Und wer außer auch im Volldelirium Aufnahmefähigen könnte diesen überladenden, harmoniesingenden, schlierigen Afro-Echo-Boogie verkraften, wenn schon die Snare im fortlaufenden Kopftechno der vergangenen 48 Stunden das entscheidende Signal zuviel ist? Nicht auszudenken man würde dann noch das kongeniale Video dazu sehen müssen, das so irre wirkt, als hätte ein Apotheker, der selbst sein bester Kunde ist, ein Tom Waits-Remake drehen wollen. Unbescholtenere Hörer mögen sich hingegen an einem Schnappschuss aus der anderen Realität erfreuen, und wagemutige DJs können mit der 12“-Version das Ruder schwerstens rumreißen. Aber lieber vorsichtig.
Jack Peñate – Tonight’s Today (XL Recordings, 2009)
1984 sahen sich Human League dem gewichtigen Dilemma gegenüber, an das Vorgängeralbum „Dare“ anzuschließen, ein wahres Ungetüm was Verkaufszahlen und Strahlkraft anging. Zwar hatte „Dare“ die Kunst-Verpflichtungen der brillanten ersten beiden Alben weitestgehend entkräftet und man konnte nun eigentlich in alle Richtungen ordentlich auf die Pauke hauen, aber dennoch waren Philip Oakey und Co. ratlos wie sie weiter verfahren sollten. Also ließen sie sich Zeit, und zwar rückblickend zuviel Zeit um die Erfolgswelle von „Dare“ weiter reiten zu können. „Hysteria“ konnte die neuen Fans kaum befriedigen, es war einfach zuwenig Pop, und die alten Fans, sie mochten nach dem Pop-Geschiller von „Dare“ auf einen Schritt zurück richtig Sheffield und Post-Punk-Elektronik-Visonen gehofft haben, konnte man sowieso nur noch mehr enttäuschen. Der Ruch eines Albums, das eigentlich alles richtig machen will, aber alles nur falsch machen kann, durchsetzt „Hysteria“. Schon der Name ist merkwürdig gewählt, eigentlich hätte angesichts der Richtungsänderungen „Dare“ hier viel besser gepasst, wohingegen das eigentliche „Dare“ viel mehr „Hysteria“ war als das hier. Die erste Single, die politische Exkursion „The Lebanon“, führte Rockgitarren in den Bandsound ein und bietet somit inhaltlich und klanglich schon mehr Irritationen, als man der Basis nach der Serie vorangegangener Überhits hätte zumuten sollen. Auch die Coverversion von Lyn Collins’ „Rock Me Again“ ist eine bockige Abfuhr. Soul? Rock? Human League? Dennoch sind die Vorhaltungen mangelnder Popqualitäten, die „Hysteria“ nach drei Jahren Bedenkzeit schon fast in die Ecke bedächtiges Alterswerk abdrängen wollten, völlig haltlos, es sind bloß andere Popqualitäten. Es fehlen sicherlich die stürmenden und drängenden Manifeste von „Dare“, die sich so kongenial mit dem sturen Willen verbanden, die Charts in Schutt und Asche zu legen. Aber auch wenn bei der Intensität und Unmittelbarkeit der Songs ein paar Gänge zurückgeschaltet wurde, eine strickjackige Einkehr am Kamin ist dies beileibe auch nicht (diese Sichtweise ging mir schon bei den Pet Shop Boys immer auf den Geist, als ob sie vor „Behaviour“ nie milde und nachdenklich gewesen wären). Der Bruch des Albums zum vorherigen Karriereverlauf liegt dennoch vor allem in der Haltung. Ein bisschen schwärmerischen Überschwang haben sie noch herübergerettet, bei „I’m Coming Back“ und „The Sign“ etwa, bei den Rest der Songs überwiegt jedoch Desillusioniertheit und Melancholie. Es scheint fast so, als hätten sich die Träume die auf „Dare“ geträumt wurden, überhaupt nicht erfüllen können, und nun wird der Boden nach der Feier aufgewischt. Und genau da liegen die Stärken von „Hysteria“. Die Songs über Lügen, Betrügen, Vertrauensbrüche, Ratlosigkeit, enttäuschte und immer noch glimmende Hoffnungen sind mit das Wahrhaftigste, was Synthpop in seiner ganzen Glanzepoche hervorgebracht hat. Vor allem „Life On Your Own“ und „Louise“ bieten ein fantastisches Gespann, in dem in beeindruckender Ehrlichkeit und Präzision die verpassten Chancen und mit falschem Stolz konservierten Gefühlsbrachen geschildert werden, die eine Liebe hinterlässt, in der man sich nicht anvertrauen konnte, sowie die Anstrengungen, die man danach unternimmt, um damit fertig zu werden. Und das ist vielleicht zuwenig für die Charts, aber mehr als genug um einen für den Rest des Lebens zu begleiten.
Die Blow Monkeys waren sicherlich eine der eigenartigsten Bands, die im Windschatten des großen britischen Musiksommers 1982 zu Ehren kamen. Der Haupt-Blow Monkey Dr. Robert war ein archetypischer Popper, und nachdem er und seine Jungs erst nicht so recht vorankamen, stellte sich schnell heraus, dass er wie kaum ein anderer für die Pose des distanzierten Synthpop-Blue Eyed-Soulers geschaffen war. Er war nicht der erste Sänger dieser Zeit, der seine Liebe zum schwarzen Soul- und Discoerbe mit seinen stimmlich begrenzten Mitteln auslebte, aber er pflanzte sich einfach zwischen ABC und Style Council, passte sich deren Kleidungsstil an und auch deren Haltung, pflegte eine smarte Arroganz und wartete den Zeitpunkt ab, an dem er die Konkurrenz mit den eigenen Mitteln schlagen würde. Zur Hilfe kam ihm dabei ein guter Instinkt für Clubkultur. Schon bei „Digging Your Scene“ von 1986, einem der wohl wunderbarsten Midtempoklassiker der Ära, holte er die Latin Rascals an Bord, und als ABC ein Jahr später mit dem Album „Alphabet City“ und den dazugehörigen Singles noch zaghaft die ersten Vorboten der House-Bewegung umgarnten, ging er 1988 den entscheidenden Schritt weiter, und landete im Duett mit Kym Mazelle mit „Wait“ den ersten großen Welthit, der sich zwar song- und produktionstechnisch noch voll aus der Synthpop-Tradition speiste, aber im Groove trotzdem schon House war. Plötzlich war er nun die Speerspitze, und während Style Council mit ihren House-Experimenten schweren Schiffbruch erlitten, und die Pet Shop Boys mit ihren House-Verbeugungen einfach zu weit von der Clubrealität entfernt waren, ging er auf diesem noch weitgehend unerforschten Terrain den Schlaglöchern aus dem Weg, indem er einfach auf die richtigen Insider setzte. Bei seinem Soloausflug „Wait“ ließ er sich noch von Juan Atkins und Kevin Saunderson helfen, aber der wahre Meisterstreich folgte kurz darauf mit „This Is Your Life“. In der originalen Langversion, produziert Stephen Hague, einem wahren Säulenheiligen des Synthpops, ist der Song bereits ein großer Wurf. Eine brillante Mischung aus Hi-NRG-Sequencer-Disco-Restspuren, Camp-Saxofonen, melodramatischen Flächen, pompösen Pop-Pianos, die auf groovige House-Pianos treffen, und einem sich streng himmelwärts dehnenden Spannungsverlauf, der sich natürlich in einem erschütternden Popsong entlädt, dessen Hymnenhaftigkeit erst durch die lakonischen Vorhaltungen Dr. Roberts die wahre Durchschlagskraft erlangt. Denn Hymnen, die nur Hymnen sein wollen, sind nicht immer welche. Aber wenn man den Gesellschafts- und Sozialrealismus schnöseliger Inseldandys mit einer guten Melodie und einem hemmungslos opulenten Arrangement kreuzt, ist man schon gleich auf die Zielgerade eingebogen. Damit nicht genug, Dr. Robert ließ dieses Wunderwerk auch noch auf mehrere 12“s verteilt von Ten City remixen, und die Jungs um das lange Zeit einzig gültige Sylvester-Nachfolge-Falsett von Byron Stingily machen natürlich genau die schwarze Sonntagsmesse daraus, die ihm wohl bei der Idee vorgeschwebt sein mag, und die mit unmittelbarer Wucht den Geist nur so durch die Luft wirbelt, wie eben die besten Tracks Marshall Jeffersons zu dessen Glanzperiode. Ich bin mir sicher, Dr. Robert konnte noch Jahre später in seinem Songer-Songwriter-Balearen-Exil regelmäßig abrupt über diesen Kunstgriff in begeistertes Lachen verfallen, als nun auch ihn die Treffsicherheit jener Tage verlassen hatte, die noch jede vermessene Tat gerechtfertigt erscheinen lässt. Da muss man aber eben auch erstmal hinkommen.
> Bocca Grande – Overdose (Four Roses Recordings, 2009)
Ich kenne es nicht. Ist es aus Deutschland?
Nein, ist es nicht. Es ist ein deutsches Label, aber die Produzenten sind aus Japan.
Das wäre meine nächste Vermutung gewesen.
Warum hättest Du das vermutet?
Das Piano als Schlüsselelement. Ein helles Piano und auch die Art, wie sie es editiert haben. Es ist offen.
Interessant, dass Du aufgrund des Piano-Sounds auf Japan gekommen bist.
Ich denke, dass diese Art Melodie etwas hat von japanischem Soundtrack-Piano-Stil hat. Diese gewisse melodische Herangehensweise. Es gibt immer dieses romantische, dramatische Element. Und nun mit dem Keyboard weiß man genau, dass es definitiv aus Japan kommt. Es ist aber ein sehr schöner Sound. Sehr Yellow Magic Orchestra. Sehr oldschool.
Das ist, was ich dachte, als ich es ersten Mal gehört habe. Es klingt nach der Art wie Sakamoto Piano spielt.
Genau, das Piano ist irgendwie Sakamoto, aber das Keyboard im Hintergrund ist der Hosono-Touch. Es ist diese Tanzmusik, zu der Du nicht tanzen kannst, für mich jedenfalls. Vielleicht bin ich, was das Tanzen angeht, zu einfach gestrickt. Es hat diese Plastizität an sich. Ich frage mich oft, wenn ich diese Art Musik höre, ob die Musiker diese Plastizität kritisch angehen, oder ob es nur ihr künstlerischer Ausdruck ist, und eine unkritische Herangehensweise. Aber dieser Collagen-Stil zwischen Melodien, Elektronik und Texturen ist auch sehr japanisch.
Sie nennen sich Bocca Grande. Ein Paar, und sie ist Klavierlehrerin. Alle ihre Tracks haben diese Piano-Elemente.
> H.O.D. – Alive And Kicking (Mata-Syn, 2009)
Schnelles Tempo. Zu schnell für mich zum Auflegen. Das kenne ich auch wieder nicht, ich vermute mal, es ist europäisch.
Ja.
Aber kontinental, definitiv nicht englisch.
Es ist englisch.
Nein, ist es nicht! (lacht) Plugin-Keyboards, würde ich sagen. Software-Studio. Auf eine Art wie Snd auf Acid, weißt Du was ich meine? Es klingt wie eine Snd-Platte auf 45, über die man einen Beat gelegt hat.
Ja, dies ist ein englischer Dubstep-Produzent. Ein gutes Beispiel für einen etwas deeperen Stil, nicht so abhängig von den sonst üblichen darken, wobbeligen Basslines.
Ich wünschte, wir hätten einen DJ-CD-Player dafür, denn der Bass ist nett. Es wäre schön, das erheblich langsamer zu spielen.
Ich hab das ein paarmal gespielt und auf -6 heruntergepitcht, und es funktioniert.
Ja, man müsste es so auf zwischen 120 und 125 BPM herunterbekommen, und es könnte wirklich deep sein.
Ist das ein Sound, den Du magst?
Nun, es erinnert mich an einen Sound, den ich mag. Aber die Pads, ich müsste raten, wenn ich sagen wollte, ob es Plugins oder Synth-Software-Keyboards sind, zumindest ist es ein Mastering-Stil, wo es hochgeladen wird und dann mit digitalem EQ und Plugins gearbeitet wird. Der Sound erhält dadurch diese Knusprigkeit, die mich nicht wirklich interessiert. Auf seine Art ist es zu clean, und zu scharf. Es ist ein Klang, der nur mit Digitalaufnahmen funktioniert. Was in Ordnung ist, es ist auf diese Art eben zeitspezifisch, und zeigt, dass ich überholt bin. Es ist wie House Music mit etwas zu unbehandelten Patch-Sounds. Das führt zu so einem industriellen Flavour. Das schreckt mich auch bei modernem Techno ab, ich mag das nicht.
Weil es vorgefertigt klingt?
Ja, aber auf eine Art die nicht zynisch ist. Ich kann es nicht genau sagen. Ich finde nicht die richtigen Worte um zu beschreiben, was mit diesem Keyboard-Sound ist. Aber ich mag den Bass.
Es ist definitiv für große Soundanlagen gemacht.
1979 war ein folgenreiches Jahr für Disco. Alle Kanäle waren schon zu voll damit, und die übergreifenden Abwehrreaktionen waren bereits allgegenwärtig, die dann in der schrecklichen Disco Demolition Night im Chicagoer Comiskey Park gipfelten, von der sich der kommerzielle Disco-Boom vorerst nicht mehr erholen sollte. Gleichzeitig kamen in dem Jahr zahlreiche Produktionen heraus, die andeuteten, wie es fortan weitergehen konnte. Disco ging zurück ins Experimentierlabor, das System war wieder offen, und gerade jetzt, in der Niederlage, als das Genre flächendeckend angezählt war, entdeckten viele Musiker den Reiz des Ganzen, und fingen an, den zum Freiwild gewordenen Sound für ihre Zwecke zu transformieren. Alles war wieder möglich, viele Clubmacher und Musiker sammelten im Untergrund neue Kräfte, die Mutation aus Disco und Post Punk seitens der New Yorker Downtown Szene um ZE Records stand kurz bevor (denn die Gegenkultur tanzt nur zum Sound der Hauptkultur, sobald er gescheitert ist), und allgemein schien es eine künstlerische Erleichterung gewesen zu sein, dass Disco als Thema so durch gewesen ist, dass es einfach egal war, was man jetzt damit anstellen würde. Den Gebrüdern Mael müssen jedenfalls noch die Sequenzen von Giorgio Moroder im Kopf herumgeschwirrt haben, die dieser für ihr 79er-Meisterwerk „Tryout For The Human Race“ produziert hatte. Mit diesem Album waren sie nicht mehr länger Disco-Sympathisanten, sie wurden selbst Disco. Und da sie gerade entdeckt hatten, wie gut Disco in ihre sehr eigene Welt passte, konnten und wollten sie auch nicht sofort wieder damit aufhören. Rasch suchten sie sich eine Interpretin für den Rest ihrer musikalischen Ideen und wurden in der merkwürdigen Sängerin Nöel fündig, die in den Kontext ähnlich quer eingesetzt wurde wie einst Andrea True und Amanda Lear. Und auch wenn die Sparks bei „Is There More To Life Than Dancing?“ im Hintergrund blieben, es ist durch und durch ein Sparks-Album geworden, und ein grandioses noch dazu. Die Melodien sind Sparks, die Texte sind Sparks, und Nöel singt sogar wie Russell Mael. Und die Musik hätte Moroder selbst auch nicht besser gestalten können. Sein futuristischer Sequenzer-Stil ist omnipräsent, wird jedoch mit der smarten Ironie und Detailverliebtheit versetzt, die alles auszeichnet, was den Sparks einfällt, wenn sie in Höchstform sind. Nach diesem genialen Intermezzo machten sie ein Jahr später mit Moroder mit dem Album „Terminal Jive“ genau an Ort und Stelle weiter, und thematisierten ihren endgültigen Abschied von klassischen Rocktraditionen mit den Worten „Rock and roll people in a disco world, They sing Hard Day’s Night, They’re as high as kites, And they sing and play and carry on like, Rock and roll people in a disco world“. Zahllose andere Überläufer von der Rock- zur Clubkultur haben sich da bis zum heutigen Tag wahrlich sehr viel dümmer angestellt.
Nöel – Is There More To Life Than Dancing? (Virgin, 1979)
Ich möchte heute die Rubrik dazu nutzen, um auf ein eher weniger beachtetes Opfer der Musikwirtschaftskrise hinzuweisen: den housigen Undergroundmix für normalerweise nicht housige Artists. In Zeiten, in denen Remixbudgets von Majorlabels die Beträge für die Praktikantenbetreuung nicht mehr übersteigen dürfen, A&R-Leute mit noch wesentlich mehr Verspätung ein Ohr von außen an die Mauern der Clubs halten, oder sich allgemein eingeredet wird, der Auftragsproduzent des Originaltracks könne die Dance-Version bestimmt auch gut machen, können sie nicht mehr wohl gedeihen, die seltsamen Blüten, die entstehen, wenn Bürostrategen, die nicht tanzen, auf Produzenten treffen, die nur bedingt in Chartsnotierungen denken. Die Blütezeit dieser Untergattung der House-Historie ist von den spätern 80ern bis Mitte der 90er datierbar, als krude Illusionen von Tanzflächenkredibilität gepaart mit prallen Marketingkampfkassen auf die Crème de la Crème der Clubkultur trafen, oder auch nur auf die Auftragsallzwecktypen, die sich für keinen Auftragsallzweck zu schade waren. Letztere gab es in der Clubkultur schon seit immerdar. Konzentrieren wir uns also lieber auf die Ersteren. Und vernachlässigen wir auch die Grundvorrausetzung dieser schiefen Konstellationen, nämlich dass sowohl Auftraggeber als auch Interpret das Endergebnis völlig gleichgültig ist, bis hin zur kompletten Verleugnung desselben bzw. peinlicher Zurschaustellung von nicht einmal Einviertelfachwissen, wenn die Dance-Version unerwarteterweise die Originalversion in Verkaufszahlen übertrumpft. Demgegenüber liefern die housigen Undergroundmixer zumeist genau das, was den nicht housigen Artists nur allzu offensichtlich fehlt. Die selbstverständliche Anbindung an Geschrei und Arme in der Luft, Schweiß, Sex und Tränen der Augenblicks-Ekstase und des Wochenendglücks. Und den Beweis, dass die jeweilige Zauberformel mit jedem Interpreten und Song funktioniert, solange man sich die Werktreue für die Radioversion aufhebt, und in den Dub- und Instrumentalversionen den dicken Hund von der Leine lässt. Es gibt sehr sehr viele Platten, wo dieses Prinzip hervorragend funktioniert, und dann Menschen auf der Tanzfläche zu Interpreten ausflippen, über die sie im Tagesgeschehen nicht einmal nachdenken würden. Indiskutables Popgeträller wird zu rhythmisch zerhackten Samples ohne stimmlichen Wiedererkennungswert, und Masters At Work machen aus Debbie Gibson, MK aus Bette Midler, DJ Pierre aus Donny Osmond, Shep Pettibone aus Paul McCartney, oder David Morales aus U2 unantastbare Clubikonen, für die Dauer des Tracks zumindest. One Little Indian hatte z. B. 1991 die merkwürdige Idee, ihre hauseigenen Indie-Superstars, die Sugarcubes, mit einem ganzen Remixalbum in der Clubszene zu vertäuen. Darauf waren, einige Mixe stinkenfaul, einige am Thema noch mehr vorbei als überhaupt befürchtet, einige uninteressant, einige interessant und einige waren echte Prachtexponate. Klarer Sieger des Wettbewerbs war für mich Tony Humphries, der seine schon anderswo demonstrierte Fähigkeit, großzügig eine Schicht New Jersey-Zauber über artfremde Musik zu legen, hier noch weit übertraf. Und er schaffte es, obwohl er sowohl alle kaprioligen Gesangsmanierismen der Sängerin unangetastet ließ, als auch dem knurrigen Sängerhünen seinen Lauf ließ. Im wunderbaren Klanguniversum von Humphries zu seiner besten Schaffensphase hat das alles seinen Platz, und wird zudem noch von allerlei feinsten Geistesblitzen erhellt. Für Humphries mag das nur eine Episode geblieben sein, aber Björk kehrte nie wieder zu Schrammelpop zurück, und für alle anderen war es ein gleißendes Himmelslicht im zwielichtigen Dunst von Körpern und Substanzen.
„This wasn’t supposed to happen, I was happy by myself, accidentally, you seduced me, I’m in love again“.
The Sugarcubes – Leash Called Love / Hit (One Little Indian, 1991)
Man kann es nicht schönreden, in der Musikgeschichte sind die New Romantics nicht wohlgelitten, und vor allem Visage hat das Urteil der Nachwelt hart getroffen. Nun findet man die fast zwanghafte Paradiesvogelhaftigkeit von Steve Strange lächerlich, der Camp ist ins Tragische übergekippt, die sexuelle Ambivalenz überholt, der Glitzer vertrocknet. Dabei sah das alles am Anfang sehr viel versprechend aus. Steve Strange war Ende der 70er das maßgebliche Gesicht der noch jungen Szene um den Londoner Blitz Club, wo man sich nach dem Vorbild von Kraftwerk, David Bowie und allem was im Post Punk Glam hatte eine neue Bewegung bastelte. Bowie erkannte das natürlich schnell und castete seine neuen Jünger für den Videoclip zu „Ashes To Ashes“, Japan griffen als erste auf was in der Luft lag, und gingen mit Giorgio Moroder ins Studio. Doch das erste hörbare Ankunftssignal der New Romantics waren Visage, die 1980 mit ihrem ersten Album und vor allem „Fade To Grey“ den Kult zu Pop machten. Midge Ure (sonst Rich Kids/Ultravox), Rusty Egan (sonst Rich Kids/Blitz-Club-DJ), Billy Currie (sonst Ultravox), Dave Formula und John McGeoch (sonst Magazine) sowie Barry Adamson und eben Steve Strange waren die Supergruppe und schafften es, alle Einflüsse und Themen zwischen artifiziellem Pathos, Pierrot-Pomp und kalter Endzeitromantik mit Image und Musik auf den Punkt zu bringen. Und plötzlich konnte alles in den Charts gar nicht mehr überschminkt genug sein. Visage selbst waren nicht so erfolgreich, wie es alle Beteiligten für selbstverständlich gehalten hatten, und eine Vielzahl von anderen Elektronikbands war entweder im Startblock oder schon vorbei gerannt. Also wurde 1982 bei „The Anvil“ nochmal alles mobilisiert was ging. Design Peter Saville, Inszenierung Helmut Newton, Steve Strange gab als visueller Hingucker alles, und die Band stellte wesentlich stringenter als auf dem Vorgängeralbum eine wirklich sehr moderne bis kühne Vision von dekadenter Discomusik auf die Beine. Aber es hat nichts genützt. Midge Ure, seine Gitarrenparts ließen teilweise schon erahnen zu welchen musikalischen Schandtaten er bereit sein würde, wurden Stranges divaeske Eskapaden in der Tat zu strange (dessen Drogensucht hat auch nicht geholfen), die anderen Mitglieder fremdelten in anderen, weniger imagelastigen Projekten, und das Gesamtkonzept erwies sich in der Euphorie eines der besten Popjahrgänge überhaupt als zu wenig euphorisch. Man wollte den schattigen Zwielichtschick der ersten Jahre nach Punk nicht mehr, verabschiedete sich vom Gebot kühler Oberflächlichkeit und Clubs voller starrer Posen, und ehemals vernachlässigte Figuren der Szene wie Boy George rächten sich mit hohen Chartsnotierungen für Musik, in der auf einmal einer blauäugigen Neueinschätzung von Soul Platz eingeräumt wurde, was noch kurz zuvor völlig undenkbar und höchst verachtenswert gewesen war. Strange drehte noch eine Ehrenrunde in der Hi-NRG-Szene der schwulen Metropolenclubs und ging dann über Jahre an der Nadel verschütt. Die musikalische Hinterlassenschaft von Visage sollte man trotzdem keineswegs unterschätzen. Die 1979er B-Seite „Frequency 7“ ist ein vor allem in Detroit gewichtiger Techno-Prototyp, der Nachzügler „Pleasure Boys“ wurde zu einem Electro-Klassiker, und der sequentielle Funk der Single „The Anvil“, vor allem im Mix vom legendären John Luongo, ist immer noch eine zwingende Pracht (man beachte auch die sehr abstruse deutsche Version „Der Amboss“), und das gesamte Album gehört sowieso überall da eingesetzt, wo man der Beliebigkeit des zeitgenössischen Discogrinsens mal einen ordentlich dominanten Hieb mit der Neunschwänzigen versetzen muss.
1988 brauchten die Videokünstler Mark McLean und Colin Scott musikalische Untermalung für eine dieser visuellen Blendgranaten, die im Nachhinein so ulkig gealtert sind (siehe auch X-Mix), und Brian Dougans dachte sich dafür „Stakker Humanoid“ aus. Das Ganze erschien dann im selben Jahr auf Morgan Khans notorischem Label Westside, und hinterließ sogleich übelste Verwüstungen im ersten britischen Summer of Love. Und das lässt sich auch über zwanzig Jahre später noch gut nachvollziehen. Der Track unterschied sich erheblich sowohl von den funkigen Acid-Prototypen aus Chicago als auch von den eher poppigen Sample-Überdosis-Varianten, die man von der Insel aus entgegensetzte. Über einen ungelenken Electrobeat rumort es gefühlte Ewigkeiten unten- und oben herum, und dann kommt diese herrische Stimme aus dem archaischen Computerspiel „Berzerk“ (überhaupt die herrischen Stimmen von Acid House!), und über die bis dahin brutalste 303-Bassline bricht ein Inferno bis dato ungehörten Ausmaßes los. Man kann es noch so oft gehört haben, diese Stelle kommt einfach immer unerwartet. „Stakker Humanoid“ blieb jahrelang ein viel gespielter Querschläger im 4/4-Bereich, doch gerade in den Händen der Breaks-Szene nach der klassischen Drum and Bass-Hausse erwies sich das visionäre Potential des Tracks, und auf Jahre hin wurde sich mit unzähligen Remixen und Mashups daran abgearbeitet. Dougans, der Humanoid nach Zwist mit den ursprünglichen Auftraggebern 1989 nach ein paar weiteren Tracks aufgelöst hatte, war da schon längst woanders. Mit Garry Cobain gründete er die legendären Future Sound Of London und andere Projekte, und setzte mit „Papua New Guinea“ und zahlreichen anderen Tracks, etwa auf Jumpin’ & Pumpin’, der noch taufrischen Breakbeat- und Raveszene der frühen 90er seinen Stempel auf. Seitdem hat er mit Cobain als FSOL und Amorphous Androgynous wesentliche Entwicklungen des Internets und anhängiger Multimediafortschritte früh aufgegriffen und dann großzügig liegenlassen, allerlei spinnerte Interviews und Statements abgegeben, und fortlaufend ungemein unterhaltsame eklektische Radioshows aufgenommen, welche die meisten Bemühungen der jüngeren Post-Disco-Psychedeliker in obskurem Inhalt und epischem Umfang noch gut in Schach halten können. Irgendwie auch beruhigend, dass man nach Jahren umfassender, zukunftgerichteter Soundforschung in diesem Feld irgendwann doch wieder bei Hawkwind landet.
Auch wenn ich sie altersbedingt erst mit etwas Verspätung entdeckt hatte, der Split der Specials, nach nur zwei grandiosen Alben, war ein echtes Schockerlebnis. Man hatte gerade erst ihre Wichtigkeit begriffen, das Echo von „Ghost Town“ hallte im Kopf noch lange nach, aber da war es schon vorbei. Was die Mitglieder Terry Hall, Lynval Golding und Neville Staple kurz darauf als Fun Boy Three losließen, muss allerdings für weite Teile der Pork Pie behüteten 2-Tone-Fangemeinde noch ein viel größeres Schockerlebnis gewesen sein. Zwar deutete es sich bei „More Specials“ schon an, aber nun war sie ganz weg, die Punk/Ska-Kombi, die Rude Boy-Outfits, die bittere Straßenkultur, und vor allem die musikalische Ideenwelt von Jerry Dammers. Stattdessen: Dschungeltrommeln, knappe Slogans und billigste Elektronikinstrumentierung. Wo vorher die Specials noch vielfältige und abseitige Einflüsse zu einem scharfen Profil bündelten, waren Fun Boy Three erstmal eine simplifizierend klingende Trotzreaktion. Eine zutiefst gegenteilige Neuerfindung, die in ihrer Konsequenz unmissverständlich darauf hindeutete, dass bei den Specials bezüglich künstlerischer Differenzen doch einiges im Argen gelegen hatte. Dennoch, die kongeniale Gesangsachse zwischen Terrys schneidendem Call und Nevilles brummiger Response war noch bestens intakt, und die grundsätzliche Angepisstheit der Texte war auch keinen Deut abgemildert, sie war nur nicht mehr hinterhältige Detailbeobachtung, sondern hinterhältige Beobachtung eines frustrierenden Gesamtbildes. Dazu im Hintergrund ein einziges Gerumpel und Gerappel auf der einen, bunt-verquerer Einfachstpop auf der anderen Seite. Und natürlich introducing: Bananarama! Ich hatte damals nicht unbedingt Eindruck, dass dieses Album ein großer nachhaltiger Wurf sei, es gab einfach keinen Vergleich, und eigentlich folgte erst mit dem zweiten Album „Waiting“ die Erkenntnis, dass hier etwas Ungehörtes und Unverwechselbares passiert war. Selbstverständlich ist „Waiting“ eines der tollsten Alben überhaupt, aber eben musikalisch konventioneller, und diese Tatsache bewirkte bei mir, dass ich ihr erstes Album immer besser und wichtiger fand, wohingegen ihr zweites Album eines der tollsten Alben überhaupt blieb (siehe auch The Colourfield). Und das ist ein wichtiger Unterschied.
Wir wollen gar nicht weiter erläutern woran es nun genau liegt, aber Fakt ist, dass man in Buchform auf der Insel deutlich emsiger und unverkrampfter an einer übergreifenden Aufarbeitung der, natürlich meistens rein auf die Insel beschränkten, Clubkultur, arbeitet. Was 1998 mit Sheryl Garratts „Adventures In Wonderland“ seinen Anfang nahm, ging stetig weiter, und just haben die dortigen Chefchronisten Bill Brewster und Frank Broughton den Acid House-Prachtfotoband „Raving 89“ von Neville und Gavin Watson auf die Kaffeetische lanciert, da folgt nun schon der Nachschlag: ein Buch über Boy’s Own, die wichtigste Londoner Fanzine-Institution der klassischen UK Rave-Zeiten von 1986 bis 1992. Es mag der nach wie vor schwelenden Nord-Süd-Rivalität zu verdanken sein, dass nach zahlreichen Veröffentlichungen über Manchesters Legendenclub Haçienda plus Umfeld auch Londons Szeneprotagonisten ihr Zeugnis ablegen. Boy’s Own brachte es in sechs Jahren zwar nur auf 12 Ausgaben, doch das Fanzine erreichte das, was die meisten anderen Fanzines nur beabsichtigen: es hinterließ tiefe Spuren. Außer Magazinen wie der Face, I-D und dem vorübergehenden Konkurrenten Blitz hatten britische Medien für ihre Trumpfkarte Clubkultur zur Gründungzeit von Boy’s Own nicht viele Zeilen übrig. Lokale popkulturelle Entwicklungen, die dem Nachtleben entstammten, exportierte man von der Beat Invasion, über Punk, Post Punk, New Romantics, bis hin zu Rare Soul und Rare Groove zwar stolz und mit voller Hype-Ladung über den Erdball, aber diejenigen, die in den richtigen Clubs zur richtigen Zeit dazu tanzten, hatten nie ein rechtes Sprachrohr. Es brauchte wohl den Enthusiasmusüberschuss des nacheifernden Peripherie-Hipsters, um diesen Zustand zu beenden. Terry Farley, Andrew Weatherall, Cymon Eckel, Steve Hall und Steve Mayes stammten aus dem Londoner Umland, und waren einerseits vom Clubland des Zentrums angezogen, andererseits stolz genug, ihre vormals ausgegrenzte Herkunft nicht zu verleugnen, sobald sie dort Fuß fassen konnten. So drückten sie mit punkgeschultem Schreibmaschinen-Layout der etablierten Szene so hartnäckig und unterhaltsam ihr Themenspektrum zwischen Drogen, balearischen Urlaubsreisen, House, Fußball, Casual-Mode und nächtlichem Troopertum auf, bis sie selbst die Szene wurden. Und fortan regierten die Jungs für lange Zeit mit florierenden Partys, Plattenlabels und Produzentenkarrieren, das Herz am rechten Fleck und voller Liebe für die Sache. Und diese Sache wäre sicherlich anders verlaufen, wenn sie sich ihrer nicht angenommen hätten. Und eigentlich hat sich nichts geändert, nur die Reputation und das Beziehungsgeflecht wurden größer. Weatherall ist immer noch ein einflussreicher Erzbohemien, und Farley rettete seinen Humor, seine Leidenschaft und alle Schreibfehler zum Fanzine „Faith“, das heute als ähnlich wichtige Lektüre gilt. Und dieses Buch ist immer noch eine essentielle Lehrstunde in Ladism, Top Young/Old Boys-Berichterstattung und entspanntem Checkertum. Die Musik dazu mag heute anders klingen, aber alles was noch dazugehört, tobt weiter.
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