Der New Yorker Club The Saint wird wohl für alle Zeiten der wahnwitzigste Ort schwuler Clubkultur bleiben. Tausende bedingungslos hedonismusbereiter Tänzer wogten jedes Wochenende unter der gigantischen Donnerkuppel, von der aus die damaligen harten DJ-Hunde in minutiös tradierten Dramaturgien ihre Zwölfstundenschichten schoben. Das einzige musikalische Gebot war eine kollektive emotionale Reizüberflutung, und jede Musik die das auslösen konnte wurde als Geschenk Gottes zelebriert. In dieser Umgebung gediehen nicht nur die prototypischen Marschflugkörper von Hi-NRG, sondern auch absurde Tränendrücker, die zum Engtanz in den Sleaze-Morgenstunden als große Oper inszeniert wurden. Als alle Resident-DJs 1988 den Club in einer mehrtägigen Abschlussorgie zu Grabe trugen, wimmelte es in den Sets nur so vor unverschlüsselten Botschaften, großen Emotionen und sehr persönlichen musikalischen Abschiedsgrüßen, die der damaligen Crowd noch bis heute als unverrückbarer Kloß im Hals stecken müssen. Robbie Leslie hatte die Ehre des letzten Sets, und dies ist seine Wahl für die letzte Platte gewesen. Ein merkwürdiger Discoschieber, der sich mit billig klingenden Syntheziserklängen an die klassische Soul-Ära klammerte, als diese schon längst vorbei war. Ein hymnischer Soul-Song, der sich überhaupt nicht die Produktionsmittel leisten konnte um so klingen zu können wie er in einer idealen Welt hätte klingen sollen. Ein Sänger, dessen Ruhmeszeit bei Tamla-Motown in solch einem unzulänglichen Gewand enden musste. Und doch, wie bei so vielen anderen obskuren Rare Soul-Evergreens, legen sich alle Beteiligten so ins Zeug, als könnte dieser eine der letzte Song sein, den sie jemals aufnehmen können. Die vage Hoffnung auf eine bessere Karrierewindung, der Trotz aber auch sich gegen die unterschwellige Erkenntnis aufzulehnen, dass hinter der nächsten Kurve nichts mehr kommt. Robbie Leslie hat aus diesem schönen, aber auch unscheinbaren Küken im Edit einen Weißkopfseeadler werden lassen, indem er nichts anderes gemacht hat, als den Refrain mit den Ohrwurmflächen im Hintergrund endlos anzuteasen, und dann in periodischen Abständen voll loszulassen. Sein Arrangement ist kein Deut exklusiver als der Song selbst, aber die Wirkung ist schockierend. Da kann man sich noch so sträuben. Und was blieb als Botschaft, mit der die Saint-Familie für immer in die kalte Realität zurückgestoßen wurde? „So hold on, to my love, I’m nothing, and I can’t get along without you. You’re the light of my life. There’s no living without your love. Nobody’s taking your place. But for you, but for me, our love would live on for the whole world to see.”
Wo man sich anderswo in der postmodernen Disco nur flüchtig mit Krautrock einlässt, das treffende Zitat ist halt wichtiger als der ganze Überbau, gehen Gerhard Michel und Gordon Pohl von Musiccargo die entscheidenden Schritte weiter. Michel ist ehemaliger Student von Klaus Dinger, das Projekt kommt aus Düsseldorf, sowohl örtlich auch als mythisch. Neu! und La Düsseldorf, frühe Kraftwerk und Konsorten geistern hier nicht als bloße Referenz herum, sondern werden so explizit herausgestellt, dass nur die modernen elektronischen Sounds daran erinnern, dass hier nicht verschollene Aufnahmen vom Happening nach der Kundgebung 1975 wiederaufgetaucht sind. Die Detailtreue ist fast schon haarsträubend. Mit dem ganz dicken Euphoriepinsel wurden die Klänge auf steppende Funktionsrhythmen aufgetragen, Melodiebass und Rhythmusgitarren kreisen zufrieden dazu im Hintergrund. Selbst die versprengten Texte halten nibelungentreu den verkifft verstiegenen Romantikduktus der Ursprungszeit, bis hin zu wirklich scham- und gnadenlosen Kitsch. Bei all diesem überdrehten Hymnenhaften erscheint es immer mysteriöser, wie sich daraus wenig später ein grundlegender Einfluss auf all die Bands in den grauen Städten der New Wave-, pardon, Post Punk-Ära ergeben konnte. Muss eine Art pervertierter Eskapismusreflex gewesen sein, ich erinnere mich da auch nicht mehr so genau. Hier jedenfalls klingen urbane Lebensaspekte genau so naturverbunden wie früher, und ergeben das definitiv irrsinnigste Album seit Fantastikoi Hxois „Kyriarxoi Tou Sympantos“.
Ich vermute eine erheblich komplizierte Rechtslage mit dem Potential für zerbrochene Freundschaften, denn diese ursprünglich 1990 auf Transmat erschienene Platte hat, von einer bockigen Zweitverwertung fünf Jahre später auf 430 West abgesehen, regulär nie wieder die Läden erreicht. Das ist in jeder Hinsicht verheerend, denn damals kündete dieses Wunderwerk in womöglich nie wieder erreichter Perfektion von der Möglichkeit, puristischen Detroit Techno als Thema über die männliche Nerd-Kultur hinaus zu tragen. Ich habe diesen Track immer als die Platte im Kopf, die damals magisch alle Mädchen auf die Tanzfläche zog, um zusammen mit den Jungs in diesem flüchtigen Glück zu versinken. Immer in der Gewissheit, dass ein Moment größerer Verbundenheit und Intimität in dieser Nacht nicht mehr passieren kann. Eine Platte, bei der man sich seiner geschlossenen Augen beim Tanzen nicht schämen muss. Diese verzappelten Beats, diese „Pacific“ nicht unähnlichen Flächen, unendlich potenziert von Lisa Newberrys ewig gültigem Glaubensbekenntnis: „I believe in all things that are pure. I believe that true love will endure. I believe love lasting in eternity. I believe in you and me.” Ich muss da immer noch mächtig schlucken. Die auf dieser Platte ebenfalls enthaltenen Versionen von Jay Denham und Juan Atkins sind mindestens genau so erschütternd wie das Original. Zahlt jeden Preis!
Shut Up And Dance waren neben 4 Hero die ersten Vertreter dessen, was zunächst als Breakbeat Techno bezeichnet wurde, dann als Jungle, dann als Drum And Bass, und dann als alles was findigen Journalisten und Szeneleuten zum Thema noch so einfiel. Am Anfang wollten PJ und Smiley einfach nur Hip Hop machen und verarbeiteten die Begeisterung für die aufblühende Rave-Kultur nebenbei in instrumentalen Tracks, die auf Hip Hop-Beats mit 45 Umdrehungen umherratterten. Mit ihren Texten machten sie ihren Turf Hackney zur international anerkannten Problemzone und mit ihrer Haltung zwischen Post-Thatcher-Wut, asiatischem Kampfsport, Gossenhumor und DIY-Punk in Loops überrollten sie jeden, der einfach nur Dancefloor machen wollte. Gesamplet wurde zwischen Detroit Techno und Synthiepop aus den Charts alles, was nicht niet- und nagelfest war: Prince, Eurythmics, Rhythim Is Rhythim, Duran Duran, Vice. Das war bedingungslos frisch und dreist und man fragte sich, ob die das wirklich alles durften. Durften sie nicht. Shut Up And Dance gingen 1992 den logischen Schritt weiter und aus kontextfreien Samples wurde die kontextuelle Coverversion. Die dröge Countryrockballade „Walking In Memphis“ von Marc Cohn wurde so zum Erlebnisbericht des Ravers, der seinen E-Spaß schildert und dennoch nicht so genau weiß, ob das noch alles mit rechten Dingen zugeht. Dazu die passenden Lärmsignale, Beats und Hymnenbreaks. Dummerweise rauschte der Track in völliger Ungeklärtheit mit dem ursprünglichem Erfinder auf die Nummer 1 der UK-Charts und Marc Cohn sah sein Werk nicht kongenial umgedeutet, sondern schlichtweg verunglimpft, dachte an Gilbert O’Sullivan und Biz Markie und schaltete sehr humorlos die Anwälte ein. Shut Up And Dance wurden so zum Patient Null der Dance-Szene, ihr Label wurde haarscharf am totalen Ruin vorbeiverklagt und lag danach lange Zeit brach, und die Platte wurde wohl zu einer der am schwierigsten zu ergatternden Nummer 1-Hits überhaupt. Bei einer drei Jahre später entstandenen Coverversion des Songs von Cher war das schon alles kein Problem mehr und sie steuerten einen ähnlich gelagerten offiziellen Remix bei (1996 kam auch noch eine Version von Scooter dazu, was damals noch die Höchststrafe war, und kein postironischer Ritterschlag). Gebrannte Kinder waren PJ und Smiley aber trotzdem, und obwohl sie mittlerweile ein gesundes Auskommen in der latent bigbeatigen UK-Breaks-Szene haben, die sowieso einst auf ihrem Mist gewachsen war, die Wut, Unverfrorenheit und Wucht ihrer frühen Tracks ist in der Zeit nach „Raving I’m Raving“ von einer anderen Qualität.
Die funkige Flanke der klassischen Post Punk-Ära hat der Nachwelt so manche Sensation zum Nachdenken mitgegeben, und der gewiss großartige James Chance wird im Kanon gemeinhin als das Nonplusultra dessen angesehen, was mit von Nadeln und Speed angefeuerter Hyperaktivität und autodidaktischen Überrollmanövern traditioneller Strukturen zwischen Disco, Funk und Jazz noch möglich war, ohne sofort zu implodieren. Das wäre auch sofort zu unterschreiben, wenn die Alben „This Is The Master Brew“ (1982) und „Get On Board“ (1983) der genialen Stickmen aus Philadelphia nicht existieren würden. Diese nach dem Tod vom Frontmann Peter L. Baker von den restlichen Bandmitgliedern zusammengestellte CD enthält die komplette musikalische Hinterlassenschaft. 22 Stücke in 45 Minuten, womit allein schon das irrsinnige Tempo dokumentiert wäre, in dem sich die Stickmen durch ihren einzigartigen Sound flirren, der grob irgendwo zwischen Albert Ayler, George Clinton und den B-52’s und einer Restmenge von ungefähr sämtlicher verbleibender Kultur des Abendlandes nach der Jahrhundertwende einzuschätzen ist, und alles passiert gefühlt gleichzeitig. Kein Motiv wird länger als ein paar Takte geritten, bevor Baker sekundengenau die totale Kehrtwende in einer völlig übergeschnappten Disco-Pop Art-Sci Fi-Geheimsprache anzählt und die Band messerscharf auf den Punkt in die nächste absurde Wendung davon rappelt. Jeder Song klingt wie mindestens zwanzig in einem und nach jedem ist man völlig alle. Die Band ist da schon längst wieder völlig woanders und man muss sich verdammt beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Dass sie diesen wahnwitzigen Virtuositäts- und Beschleunigungslevel jederzeit abrufen konnten, ist auf ebenfalls enthaltenen Live-Videos und Konzert- und Radiomitschnitten dokumentiert. Daneben wirken Mr. Bungle wie die Dire Straits.
Die Electro-Gralshüter aus Glasgow mit einer weiteren feinen EP, die sachkompetent und fanorientiert die Möglichkeiten des Genres nutzt. „Art Of Noise“ ist detroitig und scoremäßig verdüstert, „Plug“ verbindet im Original denselben Sound mit Frau/Mann-Rezitation frei nach Liaisons Dangereuses (Monologe in Tracks kriegen mich immer, besonders in französischer Sprache), der Mix von Ottomatique ist der passende Gegenpol der traditionellen italienischen Süßspeisenverlockung. Das klingt alles schon sehr gut, aber richtig sensationell wird es mit dem Mix der schon verloren geglaubten Ultradyne, die ansatzlos zum rohen Zauber ihrer frühen Warp-Veröffentlichungen zurückfinden und dunklen Techno ins Rennen schicken, in dem es an allen Ecken und Kanten rumort und pulsiert. Allerorten wird ihm wieder gehuldigt, dem altvorderen Wumms. Toll.
Session Victim und Quarion legen für ihr neues, gemeinsames Vinyl-Label mit dieser Split-EP einen Start nach Maß hin. Quarions „A Night At Zukunft“ ist eine liebevolle Hommage an den gleichnamigen Züricher Club und schon etwas länger die Geheimwaffe seiner Live-Auftritte. Eine Funkbombe mit einem beeindruckend dicken und originären Groove und hypnotischen Soundwirbeln am zeitgemäßen Ende von Detroit, die sich kathartisch in einem First Choice-Breakdown entladen. In einer guten und gerechten Welt sollte das flächendeckend die Tanzböden maßregeln. Extra löblich: das Ganze gibt es auch noch als Bonus Beats für DJs, die so etwas noch zu schätzen wissen. Und das sollten wahrlich wieder mehr werden. Auf der anderen Seite demonstrieren Session Victim auf der Grundlage von Billy Fraziers „Billy Who?“, wie man das leidige Thema Edits gewinnbringend angeht. Anstatt Arrangements vage historisch verpflichtet beizubehalten und Grooves mixkompatibel einzuzwängen und somit letztendlich bei einem für alle Lager unglücklichen und wackeligen Endresultat vermeintlicher Authentizität zu enden, stellen sie einfach alles auf den Kopf und setzen es anschließend zu einem beherzten House-Schwinger mit Disco-Erbe zusammen, der nichts weiter sein will als eben genau das. Spitzenplatte.
Session Victim alias Matthias Reiling und Hauke Freer fahren für Bear Entertainments Sublabel die im House-Revival mittlerweile etwas überstrapazierten Merkmale des Genres auf die kleinsten gemeinsamen Nenner herunter, die man für einen funktionierenden House-Track braucht: Bass, Beat und Samples. Damit ergibt sich ein Umkehrschluss zu derzeit gängigen Entwicklungen. Wo ehemalige Minimalisten ihre Tracks neuerdings mit House-Mitteln aufplustern und damit in einem stilistischen Nirgendwo landen, reduzieren Session Victim House auf den Track-Grundzustand, der per se mit minimalen Ausgangsbedingungen auskommt, aber so schon immer Bestandteil der House-Historie war. Dass die beiden sich in selbiger gut auskennen führt denn auch dazu dass dieser entschlackte Ansatz völlig ausreicht um alle vier Tracks effizient auszustatten. Reinkultur ohne Rückblick, und ein schöner Schulterschluss.
Eigentlich möchte man The Juan MacLean die Vergleiche zu Hercules & Love Affair ersparen, von denen sie vermutlich schon genervt waren lange bevor dieses Album überhaupt in die ersten Produktionsphasen gelang, aber es geht nicht ohne. Ähnlich wie die Konsensüberflieger der letzten Saison halten die Labelkollegen ihre Zeitmaschine bei individuell erlesenen Referenzpunkten an, sacken den jeweiligen Präferenzklang ein, und setzen ihn dann in der Gegenwart konsequent zweckoptimiert zu einem postmodernen Popentwurf mit größtmöglicher Heißigkeit zusammen, in dem sich alle schon vorher gekannt haben. Wozu Raw Silk, Armando und „Being Boiled“ auf mehrere Tracks verteilen, wenn das nicht auch schon in einem zusammengeht? Überhaupt Human League, der Call and Response-Trick von Philip mit Susanne und Jo wird hier flächendeckend von John und Nancy übernommen, und die Haltung gleich mit. Dazu House- und Technopioniertum aus Chicago, Detroit und New York, der große englische Synthiepopsiegeszug der frühen 80er, die Wave-Abteilung von Italo, die Glitzerecke von No Wave, Munich Disco, Lime, alles was schockt und blinkt, Samples in nachgespielt, sowie obendrein nicht zuletzt die ganzen zeitgenössischen Produktionsergebnisse all derer, die das in den letzten Jahren schon immer geliebt haben. Selbst die eigenen Ideen klingen, als hätte sie schon jemand anders gehabt. Tja, und wenn das Potpourri dann wieder so viel beschwert unbeschwerten Spaß macht wie hier, macht das auch alles rein gar nichts.
Ein neues Label aus Hamburg, betrieben von Phil Dairmount, das sich dem großen House-Erbe der Stadt verpflichtet fühlt. Allerdings nicht dem Erbe das schnell als „zu schwul“ in Form von Vocal House mit fahlem Pomp und schwachen Songs zur Zielscheibe des sich formierenden Techno-Gegenlagers wurde. Vielmehr geht es um die Zeit als alles House war, und Techno nur eine weitere Variante davon. Und nun wo die in langjähriger Abgrenzungsarbeit errichteten Kategorisierungen wieder eingerissen werden, kann man diese Haltung wohl getrost als gutes Timing bezeichnen. Für den guten Zweck ließ sich dann auch der alte Besen Austin Bascom alias Abacus reaktivieren, dessen Großtaten auf Fragile, Prescription und Guidance sich hier mit „The Answer“ gut nachempfinden lassen. In Dunkelheit grabender House mit Botschaft, der langen Anlauf nimmt und dann alle Anwesenden im Club umrennt. Auch Sasse besinnt sich auf seine alten Tage und beschwingt mit sphärischem Acid, der alte und neue Traditionen an eine üppige Tafel setzt. Den Ausklang gibt Superbads schräges „Brethren“, das sich anhört als hätte Richie Hawtin einen übergebliebenen Fuse-Track aus dem Archiv mit einer Spielzeugmelodie versehen. Interessanter Einstand.
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