1979 war ein folgenreiches Jahr für Disco. Alle Kanäle waren schon zu voll damit, und die übergreifenden Abwehrreaktionen waren bereits allgegenwärtig, die dann in der schrecklichen Disco Demolition Night im Chicagoer Comiskey Park gipfelten, von der sich der kommerzielle Disco-Boom vorerst nicht mehr erholen sollte. Gleichzeitig kamen in dem Jahr zahlreiche Produktionen heraus, die andeuteten, wie es fortan weitergehen konnte. Disco ging zurück ins Experimentierlabor, das System war wieder offen, und gerade jetzt, in der Niederlage, als das Genre flächendeckend angezählt war, entdeckten viele Musiker den Reiz des Ganzen, und fingen an, den zum Freiwild gewordenen Sound für ihre Zwecke zu transformieren. Alles war wieder möglich, viele Clubmacher und Musiker sammelten im Untergrund neue Kräfte, die Mutation aus Disco und Post Punk seitens der New Yorker Downtown Szene um ZE Records stand kurz bevor (denn die Gegenkultur tanzt nur zum Sound der Hauptkultur, sobald er gescheitert ist), und allgemein schien es eine künstlerische Erleichterung gewesen zu sein, dass Disco als Thema so durch gewesen ist, dass es einfach egal war, was man jetzt damit anstellen würde. Den Gebrüdern Mael müssen jedenfalls noch die Sequenzen von Giorgio Moroder im Kopf herumgeschwirrt haben, die dieser für ihr 79er-Meisterwerk „Tryout For The Human Race“ produziert hatte. Mit diesem Album waren sie nicht mehr länger Disco-Sympathisanten, sie wurden selbst Disco. Und da sie gerade entdeckt hatten, wie gut Disco in ihre sehr eigene Welt passte, konnten und wollten sie auch nicht sofort wieder damit aufhören. Rasch suchten sie sich eine Interpretin für den Rest ihrer musikalischen Ideen und wurden in der merkwürdigen Sängerin Nöel fündig, die in den Kontext ähnlich quer eingesetzt wurde wie einst Andrea True und Amanda Lear. Und auch wenn die Sparks bei „Is There More To Life Than Dancing?“ im Hintergrund blieben, es ist durch und durch ein Sparks-Album geworden, und ein grandioses noch dazu. Die Melodien sind Sparks, die Texte sind Sparks, und Nöel singt sogar wie Russell Mael. Und die Musik hätte Moroder selbst auch nicht besser gestalten können. Sein futuristischer Sequenzer-Stil ist omnipräsent, wird jedoch mit der smarten Ironie und Detailverliebtheit versetzt, die alles auszeichnet, was den Sparks einfällt, wenn sie in Höchstform sind. Nach diesem genialen Intermezzo machten sie ein Jahr später mit Moroder mit dem Album „Terminal Jive“ genau an Ort und Stelle weiter, und thematisierten ihren endgültigen Abschied von klassischen Rocktraditionen mit den Worten „Rock and roll people in a disco world, They sing Hard Day’s Night, They’re as high as kites, And they sing and play and carry on like, Rock and roll people in a disco world“. Zahllose andere Überläufer von der Rock- zur Clubkultur haben sich da bis zum heutigen Tag wahrlich sehr viel dümmer angestellt.
Nöel – Is There More To Life Than Dancing? (Virgin, 1979)
Ich möchte heute die Rubrik dazu nutzen, um auf ein eher weniger beachtetes Opfer der Musikwirtschaftskrise hinzuweisen: den housigen Undergroundmix für normalerweise nicht housige Artists. In Zeiten, in denen Remixbudgets von Majorlabels die Beträge für die Praktikantenbetreuung nicht mehr übersteigen dürfen, A&R-Leute mit noch wesentlich mehr Verspätung ein Ohr von außen an die Mauern der Clubs halten, oder sich allgemein eingeredet wird, der Auftragsproduzent des Originaltracks könne die Dance-Version bestimmt auch gut machen, können sie nicht mehr wohl gedeihen, die seltsamen Blüten, die entstehen, wenn Bürostrategen, die nicht tanzen, auf Produzenten treffen, die nur bedingt in Chartsnotierungen denken. Die Blütezeit dieser Untergattung der House-Historie ist von den spätern 80ern bis Mitte der 90er datierbar, als krude Illusionen von Tanzflächenkredibilität gepaart mit prallen Marketingkampfkassen auf die Crème de la Crème der Clubkultur trafen, oder auch nur auf die Auftragsallzwecktypen, die sich für keinen Auftragsallzweck zu schade waren. Letztere gab es in der Clubkultur schon seit immerdar. Konzentrieren wir uns also lieber auf die Ersteren. Und vernachlässigen wir auch die Grundvorrausetzung dieser schiefen Konstellationen, nämlich dass sowohl Auftraggeber als auch Interpret das Endergebnis völlig gleichgültig ist, bis hin zur kompletten Verleugnung desselben bzw. peinlicher Zurschaustellung von nicht einmal Einviertelfachwissen, wenn die Dance-Version unerwarteterweise die Originalversion in Verkaufszahlen übertrumpft. Demgegenüber liefern die housigen Undergroundmixer zumeist genau das, was den nicht housigen Artists nur allzu offensichtlich fehlt. Die selbstverständliche Anbindung an Geschrei und Arme in der Luft, Schweiß, Sex und Tränen der Augenblicks-Ekstase und des Wochenendglücks. Und den Beweis, dass die jeweilige Zauberformel mit jedem Interpreten und Song funktioniert, solange man sich die Werktreue für die Radioversion aufhebt, und in den Dub- und Instrumentalversionen den dicken Hund von der Leine lässt. Es gibt sehr sehr viele Platten, wo dieses Prinzip hervorragend funktioniert, und dann Menschen auf der Tanzfläche zu Interpreten ausflippen, über die sie im Tagesgeschehen nicht einmal nachdenken würden. Indiskutables Popgeträller wird zu rhythmisch zerhackten Samples ohne stimmlichen Wiedererkennungswert, und Masters At Work machen aus Debbie Gibson, MK aus Bette Midler, DJ Pierre aus Donny Osmond, Shep Pettibone aus Paul McCartney, oder David Morales aus U2 unantastbare Clubikonen, für die Dauer des Tracks zumindest. One Little Indian hatte z. B. 1991 die merkwürdige Idee, ihre hauseigenen Indie-Superstars, die Sugarcubes, mit einem ganzen Remixalbum in der Clubszene zu vertäuen. Darauf waren, einige Mixe stinkenfaul, einige am Thema noch mehr vorbei als überhaupt befürchtet, einige uninteressant, einige interessant und einige waren echte Prachtexponate. Klarer Sieger des Wettbewerbs war für mich Tony Humphries, der seine schon anderswo demonstrierte Fähigkeit, großzügig eine Schicht New Jersey-Zauber über artfremde Musik zu legen, hier noch weit übertraf. Und er schaffte es, obwohl er sowohl alle kaprioligen Gesangsmanierismen der Sängerin unangetastet ließ, als auch dem knurrigen Sängerhünen seinen Lauf ließ. Im wunderbaren Klanguniversum von Humphries zu seiner besten Schaffensphase hat das alles seinen Platz, und wird zudem noch von allerlei feinsten Geistesblitzen erhellt. Für Humphries mag das nur eine Episode geblieben sein, aber Björk kehrte nie wieder zu Schrammelpop zurück, und für alle anderen war es ein gleißendes Himmelslicht im zwielichtigen Dunst von Körpern und Substanzen.
„This wasn’t supposed to happen, I was happy by myself, accidentally, you seduced me, I’m in love again“.
The Sugarcubes – Leash Called Love / Hit (One Little Indian, 1991)
Man kann es nicht schönreden, in der Musikgeschichte sind die New Romantics nicht wohlgelitten, und vor allem Visage hat das Urteil der Nachwelt hart getroffen. Nun findet man die fast zwanghafte Paradiesvogelhaftigkeit von Steve Strange lächerlich, der Camp ist ins Tragische übergekippt, die sexuelle Ambivalenz überholt, der Glitzer vertrocknet. Dabei sah das alles am Anfang sehr viel versprechend aus. Steve Strange war Ende der 70er das maßgebliche Gesicht der noch jungen Szene um den Londoner Blitz Club, wo man sich nach dem Vorbild von Kraftwerk, David Bowie und allem was im Post Punk Glam hatte eine neue Bewegung bastelte. Bowie erkannte das natürlich schnell und castete seine neuen Jünger für den Videoclip zu „Ashes To Ashes“, Japan griffen als erste auf was in der Luft lag, und gingen mit Giorgio Moroder ins Studio. Doch das erste hörbare Ankunftssignal der New Romantics waren Visage, die 1980 mit ihrem ersten Album und vor allem „Fade To Grey“ den Kult zu Pop machten. Midge Ure (sonst Rich Kids/Ultravox), Rusty Egan (sonst Rich Kids/Blitz-Club-DJ), Billy Currie (sonst Ultravox), Dave Formula und John McGeoch (sonst Magazine) sowie Barry Adamson und eben Steve Strange waren die Supergruppe und schafften es, alle Einflüsse und Themen zwischen artifiziellem Pathos, Pierrot-Pomp und kalter Endzeitromantik mit Image und Musik auf den Punkt zu bringen. Und plötzlich konnte alles in den Charts gar nicht mehr überschminkt genug sein. Visage selbst waren nicht so erfolgreich, wie es alle Beteiligten für selbstverständlich gehalten hatten, und eine Vielzahl von anderen Elektronikbands war entweder im Startblock oder schon vorbei gerannt. Also wurde 1982 bei „The Anvil“ nochmal alles mobilisiert was ging. Design Peter Saville, Inszenierung Helmut Newton, Steve Strange gab als visueller Hingucker alles, und die Band stellte wesentlich stringenter als auf dem Vorgängeralbum eine wirklich sehr moderne bis kühne Vision von dekadenter Discomusik auf die Beine. Aber es hat nichts genützt. Midge Ure, seine Gitarrenparts ließen teilweise schon erahnen zu welchen musikalischen Schandtaten er bereit sein würde, wurden Stranges divaeske Eskapaden in der Tat zu strange (dessen Drogensucht hat auch nicht geholfen), die anderen Mitglieder fremdelten in anderen, weniger imagelastigen Projekten, und das Gesamtkonzept erwies sich in der Euphorie eines der besten Popjahrgänge überhaupt als zu wenig euphorisch. Man wollte den schattigen Zwielichtschick der ersten Jahre nach Punk nicht mehr, verabschiedete sich vom Gebot kühler Oberflächlichkeit und Clubs voller starrer Posen, und ehemals vernachlässigte Figuren der Szene wie Boy George rächten sich mit hohen Chartsnotierungen für Musik, in der auf einmal einer blauäugigen Neueinschätzung von Soul Platz eingeräumt wurde, was noch kurz zuvor völlig undenkbar und höchst verachtenswert gewesen war. Strange drehte noch eine Ehrenrunde in der Hi-NRG-Szene der schwulen Metropolenclubs und ging dann über Jahre an der Nadel verschütt. Die musikalische Hinterlassenschaft von Visage sollte man trotzdem keineswegs unterschätzen. Die 1979er B-Seite „Frequency 7“ ist ein vor allem in Detroit gewichtiger Techno-Prototyp, der Nachzügler „Pleasure Boys“ wurde zu einem Electro-Klassiker, und der sequentielle Funk der Single „The Anvil“, vor allem im Mix vom legendären John Luongo, ist immer noch eine zwingende Pracht (man beachte auch die sehr abstruse deutsche Version „Der Amboss“), und das gesamte Album gehört sowieso überall da eingesetzt, wo man der Beliebigkeit des zeitgenössischen Discogrinsens mal einen ordentlich dominanten Hieb mit der Neunschwänzigen versetzen muss.
1988 brauchten die Videokünstler Mark McLean und Colin Scott musikalische Untermalung für eine dieser visuellen Blendgranaten, die im Nachhinein so ulkig gealtert sind (siehe auch X-Mix), und Brian Dougans dachte sich dafür „Stakker Humanoid“ aus. Das Ganze erschien dann im selben Jahr auf Morgan Khans notorischem Label Westside, und hinterließ sogleich übelste Verwüstungen im ersten britischen Summer of Love. Und das lässt sich auch über zwanzig Jahre später noch gut nachvollziehen. Der Track unterschied sich erheblich sowohl von den funkigen Acid-Prototypen aus Chicago als auch von den eher poppigen Sample-Überdosis-Varianten, die man von der Insel aus entgegensetzte. Über einen ungelenken Electrobeat rumort es gefühlte Ewigkeiten unten- und oben herum, und dann kommt diese herrische Stimme aus dem archaischen Computerspiel „Berzerk“ (überhaupt die herrischen Stimmen von Acid House!), und über die bis dahin brutalste 303-Bassline bricht ein Inferno bis dato ungehörten Ausmaßes los. Man kann es noch so oft gehört haben, diese Stelle kommt einfach immer unerwartet. „Stakker Humanoid“ blieb jahrelang ein viel gespielter Querschläger im 4/4-Bereich, doch gerade in den Händen der Breaks-Szene nach der klassischen Drum and Bass-Hausse erwies sich das visionäre Potential des Tracks, und auf Jahre hin wurde sich mit unzähligen Remixen und Mashups daran abgearbeitet. Dougans, der Humanoid nach Zwist mit den ursprünglichen Auftraggebern 1989 nach ein paar weiteren Tracks aufgelöst hatte, war da schon längst woanders. Mit Garry Cobain gründete er die legendären Future Sound Of London und andere Projekte, und setzte mit „Papua New Guinea“ und zahlreichen anderen Tracks, etwa auf Jumpin’ & Pumpin’, der noch taufrischen Breakbeat- und Raveszene der frühen 90er seinen Stempel auf. Seitdem hat er mit Cobain als FSOL und Amorphous Androgynous wesentliche Entwicklungen des Internets und anhängiger Multimediafortschritte früh aufgegriffen und dann großzügig liegenlassen, allerlei spinnerte Interviews und Statements abgegeben, und fortlaufend ungemein unterhaltsame eklektische Radioshows aufgenommen, welche die meisten Bemühungen der jüngeren Post-Disco-Psychedeliker in obskurem Inhalt und epischem Umfang noch gut in Schach halten können. Irgendwie auch beruhigend, dass man nach Jahren umfassender, zukunftgerichteter Soundforschung in diesem Feld irgendwann doch wieder bei Hawkwind landet.
Auch wenn ich sie altersbedingt erst mit etwas Verspätung entdeckt hatte, der Split der Specials, nach nur zwei grandiosen Alben, war ein echtes Schockerlebnis. Man hatte gerade erst ihre Wichtigkeit begriffen, das Echo von „Ghost Town“ hallte im Kopf noch lange nach, aber da war es schon vorbei. Was die Mitglieder Terry Hall, Lynval Golding und Neville Staple kurz darauf als Fun Boy Three losließen, muss allerdings für weite Teile der Pork Pie behüteten 2-Tone-Fangemeinde noch ein viel größeres Schockerlebnis gewesen sein. Zwar deutete es sich bei „More Specials“ schon an, aber nun war sie ganz weg, die Punk/Ska-Kombi, die Rude Boy-Outfits, die bittere Straßenkultur, und vor allem die musikalische Ideenwelt von Jerry Dammers. Stattdessen: Dschungeltrommeln, knappe Slogans und billigste Elektronikinstrumentierung. Wo vorher die Specials noch vielfältige und abseitige Einflüsse zu einem scharfen Profil bündelten, waren Fun Boy Three erstmal eine simplifizierend klingende Trotzreaktion. Eine zutiefst gegenteilige Neuerfindung, die in ihrer Konsequenz unmissverständlich darauf hindeutete, dass bei den Specials bezüglich künstlerischer Differenzen doch einiges im Argen gelegen hatte. Dennoch, die kongeniale Gesangsachse zwischen Terrys schneidendem Call und Nevilles brummiger Response war noch bestens intakt, und die grundsätzliche Angepisstheit der Texte war auch keinen Deut abgemildert, sie war nur nicht mehr hinterhältige Detailbeobachtung, sondern hinterhältige Beobachtung eines frustrierenden Gesamtbildes. Dazu im Hintergrund ein einziges Gerumpel und Gerappel auf der einen, bunt-verquerer Einfachstpop auf der anderen Seite. Und natürlich introducing: Bananarama! Ich hatte damals nicht unbedingt Eindruck, dass dieses Album ein großer nachhaltiger Wurf sei, es gab einfach keinen Vergleich, und eigentlich folgte erst mit dem zweiten Album „Waiting“ die Erkenntnis, dass hier etwas Ungehörtes und Unverwechselbares passiert war. Selbstverständlich ist „Waiting“ eines der tollsten Alben überhaupt, aber eben musikalisch konventioneller, und diese Tatsache bewirkte bei mir, dass ich ihr erstes Album immer besser und wichtiger fand, wohingegen ihr zweites Album eines der tollsten Alben überhaupt blieb (siehe auch The Colourfield). Und das ist ein wichtiger Unterschied.
Wir wollen gar nicht weiter erläutern woran es nun genau liegt, aber Fakt ist, dass man in Buchform auf der Insel deutlich emsiger und unverkrampfter an einer übergreifenden Aufarbeitung der, natürlich meistens rein auf die Insel beschränkten, Clubkultur, arbeitet. Was 1998 mit Sheryl Garratts „Adventures In Wonderland“ seinen Anfang nahm, ging stetig weiter, und just haben die dortigen Chefchronisten Bill Brewster und Frank Broughton den Acid House-Prachtfotoband „Raving 89“ von Neville und Gavin Watson auf die Kaffeetische lanciert, da folgt nun schon der Nachschlag: ein Buch über Boy’s Own, die wichtigste Londoner Fanzine-Institution der klassischen UK Rave-Zeiten von 1986 bis 1992. Es mag der nach wie vor schwelenden Nord-Süd-Rivalität zu verdanken sein, dass nach zahlreichen Veröffentlichungen über Manchesters Legendenclub Haçienda plus Umfeld auch Londons Szeneprotagonisten ihr Zeugnis ablegen. Boy’s Own brachte es in sechs Jahren zwar nur auf 12 Ausgaben, doch das Fanzine erreichte das, was die meisten anderen Fanzines nur beabsichtigen: es hinterließ tiefe Spuren. Außer Magazinen wie der Face, I-D und dem vorübergehenden Konkurrenten Blitz hatten britische Medien für ihre Trumpfkarte Clubkultur zur Gründungzeit von Boy’s Own nicht viele Zeilen übrig. Lokale popkulturelle Entwicklungen, die dem Nachtleben entstammten, exportierte man von der Beat Invasion, über Punk, Post Punk, New Romantics, bis hin zu Rare Soul und Rare Groove zwar stolz und mit voller Hype-Ladung über den Erdball, aber diejenigen, die in den richtigen Clubs zur richtigen Zeit dazu tanzten, hatten nie ein rechtes Sprachrohr. Es brauchte wohl den Enthusiasmusüberschuss des nacheifernden Peripherie-Hipsters, um diesen Zustand zu beenden. Terry Farley, Andrew Weatherall, Cymon Eckel, Steve Hall und Steve Mayes stammten aus dem Londoner Umland, und waren einerseits vom Clubland des Zentrums angezogen, andererseits stolz genug, ihre vormals ausgegrenzte Herkunft nicht zu verleugnen, sobald sie dort Fuß fassen konnten. So drückten sie mit punkgeschultem Schreibmaschinen-Layout der etablierten Szene so hartnäckig und unterhaltsam ihr Themenspektrum zwischen Drogen, balearischen Urlaubsreisen, House, Fußball, Casual-Mode und nächtlichem Troopertum auf, bis sie selbst die Szene wurden. Und fortan regierten die Jungs für lange Zeit mit florierenden Partys, Plattenlabels und Produzentenkarrieren, das Herz am rechten Fleck und voller Liebe für die Sache. Und diese Sache wäre sicherlich anders verlaufen, wenn sie sich ihrer nicht angenommen hätten. Und eigentlich hat sich nichts geändert, nur die Reputation und das Beziehungsgeflecht wurden größer. Weatherall ist immer noch ein einflussreicher Erzbohemien, und Farley rettete seinen Humor, seine Leidenschaft und alle Schreibfehler zum Fanzine „Faith“, das heute als ähnlich wichtige Lektüre gilt. Und dieses Buch ist immer noch eine essentielle Lehrstunde in Ladism, Top Young/Old Boys-Berichterstattung und entspanntem Checkertum. Die Musik dazu mag heute anders klingen, aber alles was noch dazugehört, tobt weiter.
1990 war in England ein Jahr wuseliger Umorientierung. Die Sommer der Liebe waren vorüber, Breakbeats standen in den Startlöchern um Acid House bei den Kornfeld-Raves abzulösen, Warp brachte Bleep und Clonks, in London und vor allem Manchester machte man sich daran Indiebands wie die Happy Mondays und Primal Scream mit den noch jungen Errungenschaften der Clubkultur zu versetzen, und UK Clubsoul rollte weiter. ”Electribal Memories“ von Electribe 101 brachte alle diese Umtriebe auf den Punkt, aber nicht im Sinne eines Konglomerats, das möglichst trendkonform alle verfügbaren Stilarten im Albumformat abklappert und dabei kaum über das klassische Popprinzip hinausgeht, ein paar Singles, ein paar Balladen und einen tristen Rest von Füllern zu versammeln. Electribe 101 begriffen ihr Album offensichtlich als ernstzunehmende Gelegenheit, Pop und Club nach ihren Vorstellungen zusammenzubringen, und setzten eher auf anhaltende Verehrung denn auf saisonale Hipness. Ihre Musik ist zwar eindeutig im damaligen Zeitgeschehen verwurzelt, doch die Hektik der Bestrebungen anderer, von der allgemeinen Dancefloorbegeisterung zu einem geregelten Einkommen zu gelangen, ist hier nicht zu finden. Vor allem bietet die kühle Metropolenmelancholie der Musik aber eine perfekte Plattform für die aus Hamburg stammende Sängerin Billie Ray Martin, die in einer Zeit, als Sängerinnen meistens entweder Disco-Überbleibsel auf dem dritten, oder austauschbare Radlerhosenhupfdohlen auf dem ersten Bildungsweg waren, eine Ehrfurcht einflößende Erscheinung war, eher von Nico und der dunklen Seite von Post Punk geschult, als von der imperativen Glückseligkeit gängiger Clubmusik. Billie Ray Martin interessiert sich überhaupt nicht für diese Traditionen, die Liebe von der sie in Tracks wie ”Tell Me When The Fever Ended“ oder ”Talking With Myself“ singt ist vor allem enttäuscht und verlassen, abseitig, einseitig und obsessiv. Und ganz besonders trifft das auf ”You’re Walking“ zu, wo die nächtliche Stadt nur noch hinterhältige Verlockungen bietet, und sich Liebe darin erschöpft, dem Objekt der Begierde nachzustellen, ohne jegliche Aussicht damit mehr zu erreichen als ein paar Schnappschüsse, um die hohlen Fantasien am Leben zu erhalten (eine Version des Tracks heißt nicht umsonst ”Peeping Tom Mix“). Es spricht aber auch für die Intensität der Musik von Electribe 101, dass ausgerechnet beim instrumentalen ”Ambient Groove Mix“ die meisten Schauer über den Rücken laufen. Ohne die Narration Martins wirkt der Track wie ein dunkel-fiebriger Soundtrack, und man findet sich unweigerlich selber in der Rolle des Stalkers wieder, der im günstigsten Observationsabstand seiner Zielperson durch den Regen folgt. Das ist als Hörerlebnis ziemlich harter Stoff, aber auch eines der beeindruckendsten Stücke jener Zeit. Und es sticht in der Popgeschichte heraus wie das Stilett im Stativ von Karlheinz Böhms Kamera in Michael Powells Psychopathenklassiker.
Ich fand immer die Geschichten vom New Yorker Brill Building faszinierend, ein Gebäude in New York, in dem von Ende der 50er bis Mitte der 60er später legendäre Songwriter wie Goffin/King, Greenwich/Weil, Barry Mann, Neil Sedaka und viele mehr in stickigen Winzbüros versuchten, Jugendkultur in großartigen Popsongs abzubilden, den Druck der Stechuhr und der Arbeitgeber nur mit Talent, Belastbarkeit und erheblichen Kenntnissen ihrer Materie die Stirn bietend. So ungnädig diese Arbeitsweise war (alle Beschäftigten wollten eigentlich nur so schnell wie möglich da raus), die örtliche Begrenzung stand großen Gedankenfluchten entgegen, man hörte der Musik ihre anstrengende Entstehung nicht an und viele dieser Songs sind heute Klassiker der Popgeschichte, die perfekte Umsetzung der Träume ihres Zielpublikums. ”Songs For Joy“ ist ein Konzept, mit dem Carsten ”Erobique“ Meyer, Jacques Palminger und Chris Dietermann jeweils einmal in den letzten drei Jahren das Berliner Maxim Gorki Theater besetzt hatten. Jeder war eingeladen, Ideen, Fragmente und Texte dort abzugeben, und in den folgenden zwei Wochen machten sich die drei daran, daraus Songs entstehen zu lassen, die dann in einer Abschlussgala aufgeführt wurden, unter Mitwirkung der vom Musikbusiness größtenteils unvorbelasteten Einsender. Die Herangehensweise war bzw. ist dabei sicherlich etwas ungezwungener als in der obigen Hitfabrik, aber der Anspruch, in kürzester Zeit aus einer Fremdidee einen möglichst zeitlosen und großartigen Popmoment zu schaffen, ist auch hier unverkennbar, und der lässt sich nur einlösen, wenn man Pop wirklich begriffen hat. Dieses Album ist eine Werkschau der unter diesen Bedingungen entstandenen Songs, und es löst den Anspruch nicht nur ein, es ist womöglich das aufrichtigste, unmittelbarste, smarteste, rührendste und liebevollste Statement, das in diesem Land erscheinen konnte, wo Pop immer noch regelmäßig entweder an diffusen Internationalitäts- oder Diskursminderwertigkeitskomplexen zerschellt. Die Kombination der unbedarften aber dadurch absolut nicht minder klugen Texte mit dem Kompositions- und Improvisationstalent der Gastgeber, von unzähligen Bühnenauftritten und innig geliebter und gelebter Musik zwischen Northern Soul und Tropicália, Style Council-Popperpop, Pazifiksonne-Softrock und Chansondisco, großen Balladeuren und vergessenen Randfiguren befeuert, ist schlichtweg wundervoll, und stellt der nicht schweigenden Mehrheit hiesiger Popproduktion mit Ursprung zwischen Fließband und Diskussionsrunde ein seitenlanges Armutszeugnis aus. Mancher kann diese Musik vielleicht nicht verkraften, ohne sich einen Ironiemasterplan oder sonstige Schattenkonzepte einzureden. Aber mancher sollte vielleicht einfach mal versuchen wirklich zu hören, was es hier zu hören gibt: große Umarmungen, große Herzen und große Freude.
ZE Records, die beste Schnittstelle zwischen Post Punk und Disco die man sich überhaupt jemals herbeisehnen konnte, ist nach wie vor faszinierend wenig ausgelaugt von fortlaufenden Retrospektiven und allgemeinem Beifall. Die Musik war einfach zu gut, von dem unsäglichen Davitt Sigerson mal abgesehen, den ich mir immer als eine Rockparodie schön gedacht habe, der aber leider wirklich nur Rock war, und wirklich kein guter. 1980 war das Label auf dem ersten kreativen Höhepunkt, August Darnell wurde zusammen mit Andy Hernandez aus den Trümmern von Dr. Buzzard’s Original Savannah Band herübergeholt, und zusammen wurden sie als Kid Creole und Coati Mundi zu Hausproduzenten erkoren. Schon das erste Album von Kid Creole & The Coconuts, ”Off The Coast Of Me“, machte klar, dass Darnell keineswegs daran dachte, seine textlichen, musikalischen und konzeptuellen Geniestreiche bei Dr. Buzzard und Machine zurückzulassen, er überführte sie einfach in den neuen Lebensraum. Und da sein Talent zu dieser Zeit vor brillanten Ideen unbändig umhersprühte, gab es nicht die geringsten Abstoßungsreaktionen. Demzufolge war es natürlich eine Prachtidee, ihn mit dem Debütalbum von Cristina zu betrauen, einem sehr schicken Mädchen aus gutem intellektuellem Hause, das vorher vornehmlich smarte Texte für die lokale Hipsterpresse verfasste, und dann nach Überredung des Labelmitinhabers und späteren Ehemannes Michael Zilkha die Single ”Disco Clone“ aufnahm, eine furiose Ansage an die im Aussehen und Persönlichkeit gleichgeschalteten Hühner im Club, mit kongenialer Musik, die sehr zickig gängige Disco-Arrangements mit schrägen Refrains und merkwürdigen Latin-Eskapaden verband. Cristina hatte eine eher begrenzte Singstimme, aber sie strahlte im Überfluss alles aus, was einer Diva der Disco-Gegenkultur förderlich war: gebildete Cleverness, kalkulierte Distanziertheit und nicht zuletzt fragiler Sex-Appeal, der durch treffsicher modisches Auftreten noch forciert wurde. Darnell war natürlich schlau genug, sie die ganze Gegensätzlichkeit und Komplexität ihrer exaltierten Kunstfigur ausleben zu lassen, und ergänzte ihre Posen mit luftig-beschwingtem Latin-Disco und exotischen Dschungelklängen auf der absoluten Höhe seines Könnens. Dadurch ergab sich, dass Cristina immer glaubwürdig war, sei es als Disco Clone-Fortsetzung in Polnareffs ”La Poupée Qui Fait Non“ oder als frustrierte Strohwitwe in ”Blame It On Disco“, und vielerlei andere tolle Rollen mehr. So perfekt kam das danach nicht mehr zusammen, die Musik ihres zweiten, von Don Was produzierten, Albums hatte andere Qualitäten, konnte jedoch mit der schlauen City-Dekadenz ihrer Texte nicht mehr mithalten, und sie zog sich wieder aufs Schreiben zurück. Was für eine Verschwendung!
Wie schon bei Acid House interpretierte man in England die amerikanischen Entwicklungen auch bei Deep House etwas anders. Diese EP von 1992 gehörte zu den ersten bedeutenden Versuchen, die US-Originale des sanften Sounds der frühen 90er auszulegen, die besonders in New York insbesondere von Legenden wie Wayne Gardiner und vielen anderen Hispano-Jungtalenten auf Labels wie Strictly Rhythm, Nervous, Nu Groove und zahlreichen Kleinstlabels ausgelebt wurde. Weiche Kicks, warme Akkorde, bequem identifizierbare Vocal-Samples und allerlei Zierrat im Arrangement war das Gebot der Stunde, was später oft dazu führte, das man diese Spielart von House despektierlich als Flötenhouse verunglimpfte. Adam Holden, Rob Mello und Zaki Dee waren keine Stümper auf dem Gebiet, sie brachten es später zur beachtlichen Weihe eines kultisch verehrten Gastspiels auf Prescription, und auch hier war schon alles im Lot. Die melancholische Emotionalität und Leichtigkeit im Klang der US-Vorbilder wurde mindestens eingeholt, House wurde hier gespielt und nicht zusammengebaut, und sorgte auf so mancher Tanzfläche für Momente voller selig geschlossener Augen. Im Vergleich griffen die Jungs aber auch die Errungenschaften vor der eigenen Tür auf, insbesondere Joey Negros Art Disco mit Deep House zu verbinden, scheint auch hier durch, und bei aller Tiefe haben diese Tracks auch diesen wohligen mediterranen Schimmer, den die italienischen House-Produktionen der frühen 90er auf der Insel hinterlassen hatten. In Anbetracht des übersichtlichen englischen Sommerwetters ist diese EP Eskapismus der höchsten Edelstufe, und enthält darüber hinaus mit „Explain It“ einen der erschütterndsten House-Lovesongs ever, über den die Originators in den US-Großstädten explizit und zeitlebens den Mantel neidvollen Stillschweigens ausgebreitet haben. Dem Vergessen gilt es nun wirklich entgegen zu gehen, mit dem richtigen Talent geht House immer noch überall, auch wenn die Urheber dieses Wunderwerks in den Folgejahren mit die Regel bestätigenden Ausnahmen lieber zu den Gründerväter von Boompty zählten anstatt die internationale Deep House-Bruderschaft in Schach zu halten.
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