Rewind: Stefan Goldmann über “Devotion”

Posted: January 18th, 2010 | Author: | Filed under: Artikel | Tags: , , , , | No Comments »

Im Gespräch mit Stefan Goldmann über “Devotion” von John McLaughlin (1972).

Was ist Deine persönliche Verbindung zu John McLaughlin? Wie und wann bist Du auf ihn gestoßen?

Als ich 14-15 war und meine Ferien wie immer in Sofia verbrachte, war plötzlich Jazz das ganz große Thema bei meinen Freunden dort. Die anderen waren 2-4 Jahre älter als ich und ich ließ mich gerne beeinflussen. Als ich z. B. 9 war, kam ich so zu Iron Maiden, dann zu Led Zeppelin und Pink Floyd, und schließlich kam ich eines Sommers wieder und die waren alle ganz versessen auf das, was sie für Jazz hielten. Also Hauptsache virtuos – da wurde dann John Coltrane genau so gehört wie Al Di Meola oder die Chick Corea Elektric Band. Der Name McLaughlin fiel da auch schnell. Zurück in Berlin ging ich also zum Virgin Megastore und schaute mir die Kassetten an. Das war das Format, das mich interessierte, weil ich keinen eigenen Plattenspieler hatte, dafür aber einen Ghettoblaster und einen Walkman. Im Laden hatten sie die “Devotion” sowie die “Love Devotion Surrender” mit Carlos Santana. Sonst nichts. Als angehender Jazz-Snob hab ich natürlich die „Devotion“ mitgenommen und mich nicht mit irgendwelchen Rockern aufgehalten. Interessanterweise war dieses Tape die Lizenzausgabe von Celluloid, was später eines der wichtigsten Labels für mich werden sollte. Es hatte dieses super Coverdesign von Thi-Linh Le, der die ganzen legendären Celluloid-Cover in den 80ern gemacht hat. Ich kam hier also gleich mit zwei sehr wesentlichen Dingen in Berührung.  Als ich damals auf einer Skifahrt in Tschechien war, konnte ich damit ganz gut die Mädchen beeindrucken, weil das selbst für die offenkundig so viel besser war als der Spaß-Punk, den die anderen Jungs dabei hatten.

McLaughlin war ja an sehr vielen bedeutenden Alben beteiligt. Warum hast Du Dir “Devotion” ausgesucht?

Gut, allein die ganzen Miles Davis Platten, auf denen er mitspielt sind eh der Wahnsinn. „Bitches Brew“ ist für mich sicherlich das bedeutendste Album überhaupt. Nur ist “Devotion” für mich einerseits der Einstieg gewesen, anderseits ist es in mehreren anderen Aspekten wirklich bemerkenswert: Es ist ein Album, das jemand in ein bestehendes Genre hineingesetzt hat – und dieses völlig übertroffen hat. Das ist ein wichtiger Beleg, das so etwas möglich ist. Es gibt immer diesen riesigen Vorteil, der Erste zu sein, der etwas Bestimmtes macht. Also ich denke da an Jeff Mills oder Plastikman, die einfach als erste wahrnehmbar ein kompositorisches Niveau erreicht haben in einer Musik, die vorher eher nur raue Energie war. Solche Leute haben auf Jahrzehnte einen Vorteil gegenüber jedem, der erst später dazukommt. Es ist ein zentrales künstlerisches Problem, wenn man innerhalb irgendeiner bestehenden Kunstform arbeiten will: was kann ich eigentlich noch beitragen? Die Möglichkeiten sind halt entweder den Rahmen zu dehnen oder es einfach deutlich besser zu machen als alle Anderen. Und Letzteres hat McLaughlin mit “Devotion” einfach gemacht. Da kommt einer aus England nach New York und nimmt den kompletten Laden auseinander. Die “Devotion” ist der klanggewordene feuchte Traum jedes Hendrix-Fans, nur das Hendrix das nie hingekriegt hat. Auch nicht mit “Band Of Gypsies”. Da kulminiert Etwas, was die ganze Zeit als Erwartung in der Luft lag, nur von Niemandem vorher eingelöst werden konnte. Dieses Energieniveau war einfach damals unbekannt. Und sehr viele spätere Sachen fußen darauf – sowie auf Lifetime, der Tony Williams Band mit McLaughlin und Larry Young.

Wie Jazz bzw. Rock ist das Album eigentlich? Kann man die gängigen Maßstäbe für Jazz und Rock überhaupt darauf anwenden?

Das ist eindeutig kein Jazzalbum – und ein Definitionenstreit interessiert mich dabei wirklich nicht. Wenn man jetzt nicht gerade sagen will: es ist sowieso alles Jazz, dann ist das eine Rockplatte durch und durch, wahrscheinlich die überzeugendste bis dahin. Gerade weil sie so singulär gut ist, könnte man sich dazu verleiten lassen, “niedrigere Maßstäbe” an andere Rocksachen anzulegen. Aber vielleicht wurde doch mit dem gleichen ästhetischen Ziel einfach Besseres geleistet?

Das Interessante ist ja auch, wie Leute wie McLaughlin, Miles Davis und, etwas später dann auch sehr bemerkenswert, Jaco Pastorius und von mir aus Weather Report, sich überhaupt nicht mehr darum geschert haben, irgend einer Schule oder Stilistik oder einem Publikum treu zu bleiben. Man hat sich einer bis dahin unvorstellbaren Bandbreite an Stilmitteln bedient. Das konnte Fusion sein, im Sinne einer Vermengung von Einflüssen – und schon das ist nicht sonderlich präzise beschrieben; als auch sprunghafte Fokussierungen. Also ein Rockalbum gefolgt von einer Akustik-Gitarrenplatte mit indischer Verbrämung (”My Goal’s Beyond”). Es ist wirklich interessant, wie ein Major- bzw. auch Semimajor-Kontext so etwas wirklich mitgetragen hat. Heute kriegen ja die kleinsten Ein-Mann-Klitschen Herzrhythmusstörungen, wenn ein Künstler auch nur einen Deut von der engsten Stilfestlegung abweicht.

Gibt es für Dich Highlights auf dem Album, oder auch Stücke, die Dir nicht so gut gefallen?

“Marbles” ist vielleicht das Highlight, einerseits vom Aufbau her, andererseits wegen der unglaublichen Bassline. Das ist vielleicht eine der drei besten Basslines aller Zeiten. Auch “Purpose Of When” ist ziemlich beeindruckend, weil es diesen unglaublichen Druck entwickelt. Schwache Momente gibt es praktisch gar nicht, aber ich muss zugeben, dass ich nicht immer die Geduld habe, mich durch das Titelstück zu hören. Wobei – der Melodienvorrat, der darin entwickelt wird, ist schon wieder überragend.

McLaughlin war 1969 sehr produktiv. Noch in England veröffentlichte er “Extrapolation”, zog dann in die Staaten und wurde Teil von Tony Williams’ Lifetime und der Miles Davis Band. Im folgenden Jahr folgte dann dieses Album, und es könnte in Teilen glatt als Psychedelic Rock durchgehen, der teilweise auch ziemlich funky ist. Was mag McLaughlin dazu bewogen haben diesen Schritt zu gehen? Der gesellschaftliche Wandel der End60er-Gegenkultur? Wo siehst Du Einflüsse?

Das ist mit heutigen Maßstäben überhaupt nicht nachvollziehbar, aber in den Jahren 1969 bis 1972 hat McLaughlin eine Masse an herausragenden Arbeiten in die Welt gesetzt, wie es sonst im erweiterten Jazzkontext nur Miles Davis (und das überschneidet sich weitgehend) zur gleichen Zeit, Coltrane Anfang der 60er und dann vielleicht nochmal die gesamte New Yorker Downtown Avantgarde kollektiv von 1980 bis 1984 fertig gebracht haben. Also dieses Zusammentreffen von Qualität und Quantität. Es gab immer wieder spannende Sachen, aber Meisterwerke von Einzelpersonen in der Dichte sind wirklich rar. Bei McLaughlin speziell war es wohl so, dass er noch in England, um zu überleben, so ziemlich alles gespielt hat. Top40-Kram, Free Jazz, R’n’B… Zu Hause hat er Hindemith analysiert und irgendwelche Ragas und Talas geübt. Der war einfach gut vorbereitet. So eine Schule hatte ja praktisch niemand mit Gitarre. Er ist dann in den USA als erstes an Tony Williams und Miles Davis geraten, und das waren Leute, die sich jahrelang vorbereitet hatten, diesen Hochglanzjazz der 60er hinter sich zu lassen, den sie bis dahin gespielt hatten. Wenn so etwas zusammenkommt, gibt es anscheinend kein Halten mehr. Als dann ”In A Silent Way” und ganz besonders “Bitches Brew” alle Verkaufsrekorde brachen, waren bei den Labels alle Türen offen und der Irrsinn nahm seinen Lauf.

Im Kanon der Jazzkritik kommt “Devotion” meist nicht so gut weg wie andere Alben McLaughlins. Ist das eine Fehleinschätzung, in der die anfängliche Skepsis gegenüber Fusion Jazz nachhallt und die berichtigt werden sollte, oder sind bestimmte Einwände berechtigt?

Das gibt es wohl wirklich, wobei man dem selten begegnet. Man muss aber dringend diese Phase Anfang der 70er auseinanderhalten von allem was passierte, als Scientology und Kokain die Bühne betraten. Also Chick Corea ab Return To Forever und dann der gesamte GRP-Katalog. Was die Welle rund um “Bitches Brew” angeht – z. B. in Deutschland hat das J.E. Behrendt alles sofort hochgejubelt zum Nonplusultra, auch gerade „Devotion“. Es gab in den USA einigen Widerstand von der Kritik, aber das ist so dumm vorgetragen gewesen mit so offensichtlich beschränkten Argumenten, dass davon nicht viel übrig ist. Perfide wurde es mit Wynton Marsalis und seinen Sprachrohren, die in den 80ern diese Musik rückwirkend zum Kulturverfall erklärten und versuchten, dem Ganzen einen Verrat schwarzer Traditionen anzukreiden. Was ganz schön bizarr ist, wenn man sich mal die Musik von Marsalis anhört. Wenn man die ganze „Bitches Brew“-Explosion, zu der auch „Devotion“ gehört, als kausal verantwortlich macht für diesen 80er Softporno-Sound von Dave Grusin bis Spyro Gyra, dann kann man verstehen, wo die spätere Kritik herkommt. In der Sache ist sie meines Erachtens aber völlig unhaltbar. Da werden Sachen gleichgesetzt, die inhaltlich keinerlei Berührungspunkte haben. Letztlich ist dieser ganze Pseudo-Kunstjazz, der dem dann entgegengehalten wurde, genau so glatt wie David Sanborn und wie sie alle heißen. Die frühen 70er schneiden da einfach besser ab als alles, was seither kam.

Weil McLaughlin 1969 kurz mit Hendrix gejammt hat, wird “Devotion” oft als Versuch gedeutet, dessen Stil auf Jazz zu übertragen. Glaubst Du dass das zutrifft? Und sollte ein Jazzmusiker nicht sowieso das Recht haben in seine Musik zu integrieren, was ihm gefällt?

Ein Freund von mir hat mal den bösen Satz gesagt, der Hendrix sei nur ein mittelmäßiger Bluesgitarrist. Ich finde das lustig. Es gibt mit Sicherheit eine Vorleistung von Hendrix, auf die McLaughlin aufgebaut hat. Aber das interessante ist, was er daraus gemacht hat. Rein harmonisch ist das Lichtjahre über Hendrix hinaus. Ich meine nicht “komplizierter”, sondern neuartiger, eigener, aufregender – Hendrix ist ja praktisch nur Bluespentatonik mit ein paar abgefahrenen Effekten und einer recht gekonnten Phrasierung und Dynamik. Aber “Devotion” hat ganz andere Dimensionen, ohne je an Stringenz einzubüßen. Das ist eigentlich der springende Punkt: Dieses Album ist viel roher und energetischer als alles, was Hendrix je gemacht hat. Aber zugleich diffiziler. Was hier noch Jazz ist oder nicht, ist eigentlich uninteressant für mich. Für McLaughlin war es das wohl auch, vermute ich. Es gibt immer diese Spannungen zwischen Leuten, die irgendein ästhetisches Moment in seiner Reinheit bewahren wollen, und andere, die diese Porzellankonstruktion mit dem Hammer bearbeiten. Ich fand Letzteres immer interessanter. Diese Haltung, im Nachhinein etwas prozesshaft Entstandenes zu einem Dauerzustand zu fixieren, finde ich gruselig. Das ist wie diese Deep-House-Parties, wo ausschließlich 20 Jahre alte Platten laufen. Oder diese Zahnarzt-Jazzkonzerte, wo die Septime das schrägste zulässige Intervall ist. Das ist eine Polizeiästhetik, die Musik erkennungsdienstlich behandelt: Das darf erklingen, jenes nicht. Völlig trist.

Anscheinend war McLaughlin mit der Produktion von Alan Douglas sehr unzufrieden, der ja auch Hendrix produziert hatte. Kann man hören, dass da was schiefgelaufen ist? Wenn der Sound von Hendrix tatsächlich ein maßgeblicher Einfluss gewesen sein sollte, kommt die Produktion dem doch sehr nahe, oder?

Ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass das Endergebnis laut McLaughlin hinter dem Möglichen zurückgeblieben sein soll. Es gibt ein paar technische Patzer – falsche Edits, merkwürdige Ein- und Ausblendungen. Wenn es da auf den Bändern bessere Sachen gibt, die auf der Platte dann nicht draufkamen, wäre das ganz schön krass. Ich finde die Fehler aber charmant. Es gibt so einen Fade mitten in der Platte, wo alles kurz leiser wird und dann wieder laut gedreht wird. Es wirkt so, als habe bei der Überspielung das Telefon geklingelt, und Douglas hat kurz leiser gedreht, um den Anrufer abwimmeln zu können. Das gibt dem Ganzen so einen Avantgarde-Touch.

Wie schätzt Du die Musiker ein, die auf dem Album vertreten sind, und deren Arbeit? Ist das eine optimale Konstellation?

Das ist eine geniale Konstellation. Wenn ich es mir genau überlege, ist das eigentlich die Hendrix Experience, nur invers: also McLaughlin ist der englische Whitey und alle anderen sind so richtig schwarz. Miles Davis meinte ja immer, das Problem vom Hendrix seien die beiden Engländer in seiner Band. Das hat er dann bei Band Of Gypsies behoben. Buddy Miles an den Drums ist einfach fantastisch – und es ist schon bezeichnend, dass der auch auf der “Devotion” zu hören ist. Der Davis hat noch ein paar Jahre gebraucht, um Al Foster so eine Energie anzutrainieren. Es gibt diese Anekdote, dass Davis dem Buddy Miles hinterher gerannt ist, der aber nicht wollte. Für McLaughlin war er dann zu haben. Larry Young an der Hammond Orgel ist eh das Beste, was es im Bereich Tasteninstrumente zu der Zeit gab. Was er darauf anstellt, ist völlig einmalig. Er spielte ja auch bei Lifetime – da ist die “Turn It Over” das ganz große Schlüsselalbum. Leider hat er später viele Probleme gehabt und ist sehr jung gestorben. Die letzten Platten von ihm sind schaurig. Interessant finde ich auch Billy Rich am Bass, weil der noch komplett in dieser James-Jamerson-Motown-Schule drinsteckt. Das Bassvirtuosen-Ding kam ja erst ein paar Jahre später auf, insofern bleibt man von Soli verschont und es gibt einfach nur unglaubliche Basslines und sonst nichts. Ich nehme an, McLaughlin hat auch die Basslines geschrieben – ich weiß das nicht, aber die sind so markant, dass sie mit Sicherheit nicht improvisiert sind.

Welchen Stellenwert hat “Devotion” im Vergleich zu anderen grundlegenden Alben dieser Zeit und dieses Stils? Ist “Devotion” eine Reaktion, oder treibt es diese Entwicklungen voran?

Wenn man den Stil eng fasst, gilt beides. Irgendwie ist es auch ein Endpunkt, weil genau in der Ecke kaum etwas Überzeugenderes gefolgt ist. Oder ich kenne es einfach nicht. Das ist auch gut möglich. Mir fällt da erst wieder die “Killing Time” von Massacre ein. Ansonsten ist dieses Thema seit den 80ern fest in der Hand von Metal. Wenn man es ein wenig weiter fasst, war das vielleicht sogar verwandt mit dem etwas schwereren Sound, der mit Led Zeppelin aufkam. Nur dass “Devotion” diese Folksong-Struktur vollkommen abgeht. Und es ist trotz voller LSD-Ladung vollkommen unhippiesk. Schwarz, psychotisch, sexuell aufdringlich, High Energy wenn man so will.

Ansonsten sind die wirklich wichtigen Platten dieser Zeit eigentlich alle aus dem Miles Davis-Umfeld. Dem Ganzen wurde ja vorgeworfen, sich zu sehr an kommerziell erfolgreiche Rock- und Popgeschichten anzulehnen. Das ist bei “Bitches Brew” völlig absurd – kein Rocker hätte sich so etwas ausdenken können. Und Lifetime wurden als Vorgruppe von The Who bei jedem Konzert mit Bierflaschen von der Bühne geprügelt. „Devotion“ lehnt sich da an nichts an, sondern nimmt Rock in voller Fahrt auf. Aus der Jazzperspektive ist es also sicher die radikalste Platte gewesen – gerade weil sie sich an nichts orientiert, was man schon vom Freejazz her kannte. Letzteres gab es wiederum sehr überzeugend auf Lifetimes “Turn It Over” – eine Platte für Ritualmorde. Wie immer mit McLaughlin. Dass der wenige Monate später mit seiner Frau eine Klampfengitarren-Huldigung an Guru Sri Chinmoy aufnahm, ist auch bezeichnend. Da gibt es auch eine akustische Version von „Devotion“ mit Text. Leider ist das nie offiziell veröffentlicht worden.

Mit dem nachfolgenden Album “My Goal’s Beyond” hat McLaughlin eine andere Richtung eingeschlagen. War das eine Frustentscheidung, die den weiteren Fortgang seiner Karriere entscheidend umgeleitet hat?

Nein, das ist Konzept. Er hatte einen Vertrag über zwei Alben mit Douglas und die Idee war wohl ein elektrisches und ein akustisches zu machen. Finanziell hat sich das zunächst nicht gelohnt, weil er von Douglas über den Tisch gezogen wurde. Dabei haben sich beide Alben hunderttausendfach verkauft. Es erscheinen immer noch neue Lizenzausgaben. Aber es hat enorm geholfen, aufzuzeigen, dass er der Gitarrist der Stunde ist – und ich glaube es ist mit der Grund, weshalb er die nächsten 20 Jahre in einem Majorkontext praktisch tun konnte, was er wollte. Jazzrock-Band, indisches Quartett, Symphonieorchester, Flamenco-Trio. Solche Freiheiten hatte noch niemand in dem Bereich, glaube ich. Das ist ja auch der Jammer mit der sogenannten Demokratisierung des Marktes: die Gelder, die für Projekte dieser Größenordnung nötig sind, kriegt kein Label dieser Welt mehr zusammen. Kein “Nischenkünstler”, wie es McLaughlin letztlich war, kriegt noch genug Umsätze zusammen, als dass sich da groß angelegte Investitionen rechnen könnten. Ich denke da auch an das Album “Word Of Mouth” von Jaco Pastorius, das eine Million Dollar gekostet haben soll und ein Jahr Produktionszeit verschlungen hat. So etwas wird es nie wieder geben, wenn nicht gerade das Internet zusammenbricht.

Sind die Ideen von “Devotion” im weiteren Weg McLaughlins erkennbar? Hat er das erneut aufgegriffen, umgedacht oder mit anderen Ansätzen verknüpft?

Oh ja, wobei er sich seitdem hauptsächlich in Filigranität geübt hat. Das Harmoniegerüst von “Devotion” wie auch “My Goal’s Beyond” ist seitdem eigentlich die Grundlage für alles, was der gemacht hat – Mahavishnu, Shakti, das McLaughlin Trio, ja selbst diese Platten mit Paco De Lucia – das kommt ständig wieder. Das zeigt, welche Bedeutung die Lehrjahre haben, in denen man sich solche Konzepte aneignet. Der Rest ist in diesem Zuammenhang Exegese. Das hat man ja auch Miles Davis vorgeworfen: dass er selbst eigentlich seit 1957 immer gleich klang, aber gerne am Rahmen gedreht hat. Das ist natürlich Blödsinn – aber es gibt diese Wiedererkennbarkeit auf mehreren Ebenen, die so eine Künstlerbiographie dann auch bei den wildesten Schwenks zusammenhält. Das Überragende an McLaughlin ist vielleicht gerade dieser Forschergeist, ständig neue Sachen auszuprobieren, die dann aber nicht beliebig werden zu lassen. Speziell den Druck von “Devotion” gab es aber leider nicht wieder. In den 90ern hatte er sich an so einem Orgel-Trio wieder versucht, mit Joey DiFrancesco und Dennis Chambers. Die habe ich dann in Sofia gesehen in einem gigantischen Saal. Das war ein Großereignis und McLaughlin wurde gefeiert wie ein Rockstar, aber leider war es nicht halb so interessant wie “Devotion” auf Kassette.

Welche Rolle nimmt McLaughlin für Dich in der Jazzgeschichte, und im Besonderen in der Entwicklung dieses Sounds ein?

Für mich gibt es drei Namen: Coltrane, Davis, McLaughlin. Alle anderen kommen danach. McLaughlin hat das Pech, als Gitarrenvirtuose wahrgenommen zu werden und nicht so sehr als bahnbrechender Stilist, der er nun mal ist. Das gleiche ist später auch Jaco Pastorius passiert. Der steht für mich gleich in der Reihe dahinter. Nicht alles von McLaughlin ist kompositorisch herausragend, aber vieles eben doch. Als Gitarrist ist er für mich der Interessanteste. Einer der wenigen, die wirklich mit Dynamik arbeiten können, der in den Feinheiten richtig was reißt, aber auch ordentlich grob werden kann. Nicht wie all diese anderen Langweiler, die “im Jazz” mit diesem Instrument hausieren gehen. Es hört aber eben nicht dort auf. Neben den Harmolodics von Ornette Coleman hat er wohl das letzte eigenständige Harmoniekonzept im Jazz geschaffen. Alles Spätere von anderen Leuten scheint mir immer nur auf den 50ern und 60ern herumzukauen. Oder noch schlimmer: so eine Impressionismus/Modal-Jazz-Fusion. Diese Leistung McLaughlins wird einfach nicht genügend gewürdigt. Und leider haben, außer sämtlichen Gitarrenvirtuosen, wenige Jazzmusiker oder überhaupt Musiker wirklich mit diesen Modellen weitergearbeitet. Andererseits ist das vielleicht auch Ehrfurcht, weil es so wiedererkennbar wäre. Es gibt eine Platte von Kevin Eubanks, “Turning Point”, die ist so ein Mittelding aus McLaughlin, Steve Coleman und ECM – sehr interessant. Manchmal findet man bei ein paar John Zorn-Sachen Anklänge, z. B. bei Masada.

Du hast ja selber mal in einer Jazzband gespielt. Ging das in diese Richtung?

Auf das Niveau bin ich nie gekommen. Ich bin halt nunmehr eindeutig kein Instrumentalist, sondern Produzent und Ingenieur. Mein Instrument ist das Mischpult und das Notenfeld meines Sequencers. Als ich früher noch zu Jam-Sessions spielen ging, war aber die Bassline von “Marbles” ein Standard. Wobei ich sagen muss, dass die beste Session, an die ich mich erinnere, die Bassline von “Billy Jean” zur Grundlage hatte. Das ist eine der übriggebliebenen zwei besten Basslines aller Zeiten.

Könntest Du Dir vorstellen, dass nochmal aufzugreifen, oder schwingen solche Einflüsse sowieso schon in Deiner Musik mit?

Ich finde die Harmonik sehr spannend. Bisher ist meine Harmonik ja eher simpel gestrickt, was damit zu tun hat, dass sie eigentlich nur Trägermaterial für Klangfarben ist und von Verbiegungen im Obertonbereich frisch gehalten wird. Aber das ist ja keine Festlegung für alle Zeiten. Man kann nicht an allen Schrauben zugleich drehen. Ich kenne Komponisten, die sind Genies in der Instrumentation oder in der Harmonik, aber die können Triolen nicht von punktierten Achteln unterscheiden, also simple rhythmische Geschichten. Ich finde es interessant, wie die Beschäftigung mit einer bestimmten Stilistik immer dafür sorgt, dass bestimmte Aspekte verkümmern und andere dafür im Fokus stehen. Deshalb kommt es auf Transferleistungen an. Sich dabei bei den Meistern zu bedienen ist immer noch die beste Empfehlung. Und ob die nun Jeff Mills oder John McLaughlin heißen ändert nichts am Grundsatz. Ich glaube im Bereich Dynamik hab ich da schon stark darauf geachtet – Elemente wirklich drastisch voneinander absetzen, in den Feinheiten wirkliche Details entwickeln, in den Spitzen mit dem ganz breiten Pinsel arbeiten. Das ist irgendwie auch McLaughlin. Der hat wiederum bei Stravinsky abgeschaut, scheint mir.

Könnte elektronische oder auch andere Musik generell etwas von den Ideen und der Arbeitsweise McLaughlins gebrauchen, oder sind das Welten die man besser auseinanderhalten sollte? Gibt es Beispiele, wo das funktioniert hat bzw. nicht funktioniert hat?

Ja, mit der Dynamik ließe sich wie gesagt viel machen. Elektronische Musik neigt in der Masse einfach dazu, Kontraste zu vermeiden – außerhalb der üblichen Breaks und Ravesignale und so. Also außer diese ganz plakativen Geschichten aus der Zeit des Electroclash vielleicht. Da ist ein ungeheures Potential drin. Es ist sicherlich nicht eins zu eins übertragbar, aber McLaughlin hat viele Sachen gemacht, die sehr schlüssig sind, auch kommerziell erfolgreich waren – und dann zugleich wirklich drastische Kontraste hatten. Bei ganz vielen House- und Techno-Sachen heute komme ich mir vor wie auf der Bausparkasse. Da herrschen ein Sicherheitsdenken und ein Formkonservatismus, der sich meiner Meinung nach mit dem Anspruch dieser Musik überhaupt nicht vereinbaren lässt. Dabei ist der Markt mittlerweile so gründlich kaputt, dass nun wirklich keiner Angst haben muss, am Markt vorbei zu produzieren.

1993 gab es von 3MB, also Juan Atkins, Thomas Fehlmann und Moritz von Oswald, den Track “Jazz Is The Teacher”. Das war eher ein Statement als eine Umsetzung. Was ist für Dich die Lehre, die elektronische Musik tatsächlich umsetzen kann? Wie kann man dieses Potential nutzen?

Das Interessante an Techno war ja ursprünglich, dass es formell keinen Vorgänger hatte. Diese Tracks waren kein Pop, da sie keinerlei Songstruktur hatten, noch Jazz, noch europäische Kunstmusik der akademischen Machart – eigentlich nur, weil letztere Repetition mied wie der Teufel das Weihwasser. Irgendwann kam die Forderung nach Songs auf und bald war man auch bei einem Anspruch, der auf Jazz schielte, aber von produzierenden Plattensammlern kam, die nur die Patina kannten und nicht den Kern. Beide Richtungen haben mächtige Entgleisungen hervorgebracht, weshalb das auch irgendwie diskreditiert ist. Ich habe da auch mal ein paar Songs fabriziert, zu denen ich mich heute nun doch nicht mehr so richtig bekennen mag. Der Weg, irgendwen ein Vibraphonsolo zu einem Standardbeat einspielen zu lassen, ist jedenfalls zum Glück verbaut. Es gibt aber etwas Anderes, was mir aufgefallen ist: Ein gewisser Ansatz scheint weite Teile der Produktion elektronischer Musik zu dominieren, und es handelt sich um ein typisches Merkmal von Pop – das jedes Element eine Schwelle zu haben scheint, die nie überschritten wird. Eine Melodie z. B. kann auf die ultimative Einfachheit heruntergebrochen werden, die andere Richtung wird aber nie gegangen. Alles bleibt in einem eng abgesteckten Bereich. Es wird letztlich nie mit Überfluss hantiert – und wenn, dann nur mit einem Überfluss an Plakativität. Das erklärt auch die Geschichte mit der Dynamik, die ich vorher angesprochen hatte. Bei Jazz geht es ja dann oft um das genaue Gegenteil. Die Musik baut sich langsam vor einem auf und irgendwo am Rande bahnt sich etwas zaghaft an, was plötzlich ins Zentrum rückt und alles überstrahlt. Ein Pianist kann am Anfang ein Motiv aus zwei Tönen spielen, das dann brachial wuchert, bis der zuletzt mit beiden Unterarmen auf die Tastatur hämmert. Bei Pop ist so etwas undenkbar – dass etwas vom Rand plötzlich die komplette Kontrolle übernimmt. Ich wünsche mir eine Musik, die nicht nur die kontinuierliche Trägerschwingung für irgendwelche Drogen ist. Ich will Drama. Ich will Überraschung. Ich will Veränderung. Und da kann man bei Jazz richtig was lernen. Ich will jetzt nicht für Synthesizersoli plädieren. Um Himmels willen! Aber die üblichen Grenzen sind alle verhandelbar.

Sounds Like Me 01/10



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