Oneiro – Shhh!

Posted: May 19th, 2010 | Author: | Filed under: Rezensionen | Tags: , , | No Comments »

Derrick Carter war lange Zeit ein mehr als verlässlicher Garant für sehr individuelle House-Musik. Zu Gründungszeiten von Classic Mitte der 90er war er noch ganz in den Schnittmengen von Chicago und Detroit verhaftet, dann dauerte es aber nicht lange, bevor er in zahlreichen Eigenproduktionen und Remixarbeiten den Sound perfektionierte für den er auch heute noch steht: ein eigenwilliger Funk, stets versehen mit bouncigen technoiden Versatzstücken, einer Art hintergründiger Deepness, die sich nur schwer mit den anderen großen Melancholikern des Genres vergleichen ließ, und vor allem einer gehörigen Portion Exzentrik. Sein Haltung und seine Inhalte waren eigenbrötlerisch verschroben, stets sehr klug und entwickelten auf dem Fundament seiner Tracks oft eine merkwürdige nachhaltige Qualität. Oft wandte er eine ähnliche Herangehensweise wie seine Zeitgenossen an, bei Disco-Dekonstruktionen etwa, aber er machte daraus etwas ganz Eigenes. Sei es über mit Referenzen gespickte Tracktitel, über eine smarte Sample-Auswahl, und natürlich seine Art, über das eigene gesprochene Wort einen mindestens doppelten Boden einzubauen. Man schien meistens beim Hören seiner Musik die Gelegenheit zu haben, in die Gedankenwelt von Jemandem einzutauchen, dessen Idee von Clubmusik bei eingelösten Funktionalitätsgeboten nicht bereits eingelöst war. Vielmehr erschloss sich erst von dort aus eine komplexe Betrachtung subjektiver und objektiver Zusammenhänge, die weit über das Maß hinausging, mit dem andere Produzenten ähnliche Felder beackerten. Carter gab sich nicht damit zufrieden, mit leicht identifizierbaren Reminiszenzen eine Vertrauensbasis herzustellen, er bog bis dahin ein paar Mal um die Ecke, und lenkte das Gesamterlebnis dann mit seinen Texten in ganz andere, unerwartete Bahnen. Am besten gelang ihm das auf seinen EPs auf Classic, wie „Nü Pschidt“ oder „Unterschrift“ und anderen 12“s, dort wagte er sich am weitesten in die eigenen Ideen vor, und von dort kam er auch mit den interessantesten Tracks zurück. Für mich persönlich ist „Shhh!“ immer noch eine seiner besten Platten. Ein für ihn typischer, hüpfender Groove, den man aber 2001 nicht mehr unbedingt in dieser Frische und Qualität von ihm erwartet hätte. Darauf setzt er einen Monolog, laut Labelcredits in einem Hotelzimmer geschrieben, dessen Text weit über die leeren Hüllen hinausgeht, die man sonst im Club zu hören kriegt: „ It’s quiet now, and as I think my thoughts alone, I try to keep my head straight, but I think I’m too far gone. For in this silence, the truth ringes even louder. A constant grinding begging recognition of its power“. Und so geht es weiter, immer tiefer in die eigene Psyche. Die Musik dazu scheint fast wie ein Echo der Nacht davor, als der Erzähler noch in ganz anderen Gemütszuständen war, und dies ist der fällige Comedown, der in seiner Gegensätzlichkeit umso härter trifft. Zusätzlich verstört, dass Carter dabei den Erkennungswert seiner Erzählstimme fast auf Heliumniveau hochpitcht. Ein dunkles, klaustrophobisches und psychedelisches Ausnahmewerk entstand somit, immer noch unvergleichlich, immer noch tief beeindruckend. Als Coda gibt es dann „What Happened To The Music?“, ein Slowmotion-Disco-Groover, aus dem heutzutage vermutlich jemand einen dieser gedrosselten Housetracks gemacht hätte, die gerade so in Mode sind. Bisschen schickes Sample dazu, ein paar bewährte, möglichst warme Akkorde, verknappte Auflage, fertig ist die Laube. Derrick Carter reicht hingegen die Dualität zwischen dem bitteren Gehalt des originalen Songs von den Trammps und der extraüberzeugenden Slickness seines neu untergebauten Grooves, um darauf hinzuweisen, dass man eine Menge falsch machen kann, wenn man Alt und Neu aufeinandertreffen lässt. Er muss es damals schon geahnt haben, aber vielleicht nicht in diesem Ausmaß.

Oneiro – Shhh! (Classic, 2001)

de:bug 05/10



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