Rewind: Heiko Zwirner über “Reign In Blood”
Posted: February 22nd, 2010 | Author: Finn | Filed under: Artikel | Tags: Heiko Zwirner, Interview, Rewind, Slayer, sounds-like-me.com | No Comments »Im Gespräch mit Heiko Zwirner über “Reign In Blood” von Slayer (1986).
Wie und wann bist Du zum ersten Mal Slayer begegnet?
„Reign In Blood“ ist Ende 1986 erschienen. Damals war ich 14 Jahre alt. Meine musikalische Sozialisation hatte bis dahin sich irgendwo zwischen „Formel Eins“ und der „Hitparade International“ auf HR3 abgespielt, und wenn ich mal ganz hart drauf war, hörte ich Queen, Gary Moore oder die Scorpions. Mit Beginn des neuen Schuljahres war ich jedoch in einen exklusiven Hometaping-Zirkel aufgenommen worden, dessen Hauptumschlagsplätze der Schulhof meines Gymnasiums und der Mannschaftsbus meines Fußballvereins waren. In diesem Tauschring wurde abgestimmt, wer welche Platten kauft und wem überspielt, sodass man am Ende des Monats alle relevante Neuerscheinungen auf Kassette hatte. Je extremer, desto besser. So lernte ich Metallica, Kreator und Anthrax kennen, aber auch klassische Metalbands wie Iron Maiden und Judas Priest. Ja, und dann kamen Slayer mit der angeblich härtesten Platte aller Zeiten: „Reign In Blood“, Album des Monats im Metal Hammer, und wegen des Mengele-Songs „Angel of Death“ von Anfang an heftig umstritten. Da die Scheibe keine halbe Stunde dauerte, ließ ich sie mir auf die A-Seite einer C60-Kassette überspielen (auf der B-Seite war „Another Wasted Night“ von Gang Green, aber das ist eine andere Geschichte). Ich kann mich noch erinnern, wie sich meine Mutter darüber wunderte, dass ich mein Zimmer verdunkelte, um „Reign In Blood“ über Kopfhörer zu hören. Welche Macht Slayer auch über andere hatten, erfuhr ich dann bei meinem ersten Metal-Konzert im Februar 1987. Helloween und Overkill spielten in Mainz, um zum Aufwärmen kam „Reign In Blood“ aus den Boxen. Bei „Criminally Insane“ hat die ganze Halle mitgesungen.
Warum hast Du Dich für “Reign In Blood” entschieden? Was macht das Album so wichtig für Dich?
Wenn man mich damals nach meiner Lieblingsband gefragt hätte, hätte ich vermutlich Anthrax genannt. Das New Yorker Quintett wirkte auf Fotos und in Interviews zugänglicher und sympathischer als die aggressiven Finsterlinge aus Kalifornien, und in ihren Texten beschäftigte sich die lustige Truppe um Scott Ian mit Situationen, die ich aus dem eigenen Alltag kannte. Die Typen von Slayer haben dagegen Angst eingejagt, die sahen richtig gefährlich aus. Kerry King trug ja damals immer dieses selbst gemachte Armband, das mit 250 fingerlangen Nägeln gespickt war. Rückblickend haben Slayer jedoch klar die Nase vorn. „Reign In Blood“ hat sich bei mir tiefer eingegraben als jedes andere Metal-Album; über die Jahre hat es nichts von seiner Urgewalt verloren. Die Begegnung mit Slayer war für mich eine einschneidende Erfahrung. In diesen knapp 29 Minuten steckte so ziemlich alles drin, was ein Teenager, der das Leben bis dahin hauptsächlich aus dem Fernsehen kannte, bei der Herausbildung seiner Subjektivität brauchte: Massenmord, Religionskritik, Psychokiller – und Blut, das vom Himmel regnet. Mit einer überwältigenden Dichte und Intensität beschwört „Reign In Blood“ eine Welt herauf, die von Tod, Gewalt und Zerstörung bestimmt wird: die Hölle auf Erden. Gerade weil ich nur Fetzen von dem verstand, was da genau gesungen wurden, evozierten diese Songs einen gewaltigen, vulkanischen Bildereigen im Breitwandformat. In der Schule wurde einem ja damals noch ernsthaft vermittelt, dass Heavy Metal eine Gefahr für Seelenheil darstellt. Unser Religionslehrer warnte uns vor unterschwelligen Botschaften und berief sich dabei auf ein Pamphlet namens „Sie wollen nur deine Seele“, in dem Texte von Led Zeppelin und AC/DC analysiert wurden. Von daher war es stets auch mit einem wohligen Gruseln verbunden, sich auf ein so fragwürdiges Terrain zu begeben und Slayer zu hören.
Wie würdest Du die Musik von “Reign In Blood” beschreiben? Hardcore? Metal? Beides?
Kerry King hat einmal gesagt: „I think it’s like punk meets Priest: That’s Slayer.“ Das trifft es eigentlich ganz gut. Musikalisch verknüpft „Reign In Blood“ die musikalischen Ambitionen einer klassischen Rockband mit dem Tempo von Punk und Hardcore und der archaischen Wucht des Heavy Metal. Dabei transzendiert „Reign In Blood“ das Metal-Genre so, wie Francis Ford Coppola mit „Apocalypse Now“ den Kriegsfilm transzendiert hat. Das Album ist zu groß und zu tief für eine Nische. Deshalb können sich auch so viele auf dieses Album einigen, die mit Metal sonst nichts am Hut haben. Wahrscheinlich ist es für mehr Skateboard-Unfälle verantwortlich als sämtliche „Jackass“-Folgen. Selbst Tori Amos findet „Reign In Blood“ geil. Dabei sind Slayer immer eine hundertprozentige Metalband geblieben, wohl die archetypische Metalband.
Gibt es Highlights bzw. Ausfälle, oder magst Du das Album als Gesamtkunstwerk?
Die Höhepunkte sind sicherlich der Opener „Angel Of Death“, der Doppelschlag „Altar of Sacrifice“/„Jesus Saves“ und das große Finale „Post Mortem“/„Raining Blood“. Während die meisten Metalbands seinerzeit darum bemüht waren, mit sphärischen Intros Spannung aufzubauen, blasen dir schon die ersten Sekunden von „Angel Of Death“ die Schädeldecke weg. Die ganze Platte funktioniert wie ein schnell geschnittener Film. Die Stücke gehen fast nahtlos ineinander über und machen aus „Reign In Blood“ eine einzige Symphonie des Grauens. Da stimmt einfach alles, vom wirklich dämonischen Artwork von Larry Carroll über die Produktion und das Songwriting bis hin zu den charakteristischen Doppel-Leadgitarren und Mikrosolos. Man sollte das Album am Stück hören. Da bleibt kaum Zeit zum Luftholen, so galoppiert es voran – ein Höllenritt durch die tiefsten Abgründe der menschlichen Existenz. Kein Wunder, dass „Reign In Blood“ das einzige Album ist, das Slayer bei ihren Konzerten hin und wieder am Stück spielen.
“Reign In Blood” gilt als uneingeschränkter Klassiker. Ist das rechtens, und bleibt das so?
Ja, das ist so und das bleibt so. Es ist erstaunlich, wie neu und frisch diese Platte auch heute noch klingt. Viele Metalbands haben ja einen Hang zur unfreiwilligen Komik, der sich mit der Zeit verstärkt. Das kann man von Slayer nicht behaupten. Den Einfluss dieses Albums kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Es mag sein, dass nach Slayer andere Bands kamen, die noch kompromissloser drauflos knüppelten, aber keiner von ihnen ist es auf so intelligente Weise gelungen, Musik zu machen, die gleichzeitig extrem hart und extrem eingängig klingt.
Wer mag Slayer für dieses Album musikalisch beeinflusst haben? Gibt es Vorläufer mit ähnlichen Absichten?
Slayer sind einerseits vom Okkult-Metal europäischer Bands wie Venom und Mercyful Fate beeinflusst, andererseits von Punkbands wie den Dead Kennedys, TSOL oder Wasted Youth. Bei „Reign In Blood“ sind die Punk-Einflüsse noch deutlicher zu spüren als auf dem ersten beiden Slayer-Alben „Show No Mercy“ und „Hell Awaits“: Die Stücke sind im Schnitt deutlich kürzer als zuvor. Allein, mit zwei Akkorden haben sich Hannemann und King nicht zufrieden gegeben, da war der Ehrgeiz dann doch größer.
Zusammen mit Megadeth, Metallica und Anthrax gab es ja eine ziemliche Hochphase der dazugehörigen Musik zur Zeit der Veröffentlichung von “Reign In Blood”. Wie kam das zustande? Ist das ein 80er-Phänomen?
Slayer waren tatsächlich nicht die einzigen, die Mitte der 80er Jahre neue Standards in Sachen Geschwindigkeit, Härte und Spielfreude setzten. In dieser Zeit gehörten die extremen Ausprägungen des Metal zu den spannendsten und relevantesten Musikrichtungen überhaupt. Vor allem in den Staaten waren Hard Rock und Heavy Metal damals ja unglaublich populär. Viele der kommerziell erfolgreichen Bands steckten allerdings mehr Energie in ihre Frisuren als in ihre Musik und produzierten entsprechend unhörbare Platten. Die Akkorde eines Mötley Crüe-Albums hätte auch ein Schimpanse mit einem Boxhandschuh einspielen können. „We like to party and to have sex,“ hat der Warrant-Sänger Eric Turner mal gesagt. „That’s pretty much all we do.“ Dieses Statement bringt die im Hair Metal vorherrschende Haltung auf den Punkt. Bands wie Slayer, Megadeth und Metallica bildeten da eine Gegenbewegung, die sich eher der Ästhetik und der Haltung des Punk verbunden fühlte als den Exzessen des Stadionrock – und die Musik wieder in den Mittelpunkt rückte. „Ich mach meine Musik nicht für die Dollars. Ich möchte auf dem Street-Level bleiben.“, sagt Megadeth-Frontmann Dave Mustaine am Ende der legendären Dokumentation „The Decline Of The Western Civilisation, Part 2: The Metal Years“, und man sieht ihm an, dass er ernst meint. So sind viele Klassiker entstanden, die eigene Subgenres definierten. Speed Metal, Thrash Metal, Doom Metal, Death Metal, der Crossover zu Punk und Hardcore, später Grindcore – in dieser Zeit etablierten sich viele Formen, die später immer wieder aufs Neue wiederholt und variiert wurden. Ebenso entscheidend für die Blüte des extremen Metal war das geistige Klima, das in den USA herrschte. Seit Beginn der 80er Jahre hatten die Staaten einen gewaltigen konservativen Backlash erlebt und sich in ein durch und durch autoritäres Land verwandelt, das von christlichen Fundamentalisten regiert wurde. Im Fernsehen waren Prediger, Gesundheitsfanatiker und „Dynasty“ zu sehen. Da bekommt ein antireligiöser Song wie „Jesus Saves“ gleich ein ganz anderes Gewicht. Zumindest was die weißen Kids betraf, war Metal die passende Musik für alle, die mit der ganzen Scheiße nichts anfangen wollten, die ihre Eltern ihnen vorlebten.
Was unterscheidet Slayer von den anderen Bands, die in diesem Feld Erfolg hatten? Image, Härte, Fertigkeiten?
Slayer waren und sind eine in jeder Hinsicht herausragende Band. In Sachen Songwriting sind Jeff Hannemann und Kerry King die Lennon/McCartney des Speed Metal. Ihr Gitarrenspiel ist unverwechselbar: Die beiden würgen die Griffbretter im wahrsten Sinne des Wortes. Die abwechselnden Solos sind kurz und böse, sie funktionieren nicht wie expressionistische Klanggemälde, sondern so, als würde jemand mit schnellen Strichen eine Teufelsfratze an die Wand kritzeln. Das Markenzeichen von Hannemann und King sind chromatisch ansteigende Leads, wie sie in „Raining Blood“ und später auch in „South Of Heaven“ oder „Dead Skin Mask“ vorkommen. Ein einfaches, aber wirkungsvolles Stilmittel. Es klingt wirklich so, als würden sich die Pforten der Hölle genau in diesem Moment öffnen. Es geht weiter mit Drums: Dave Lombardo galoppiert durch das Album, als hätte er sechs Arme und vier Beine. Bei „Angel of Death“ bricht er sämtliche Geschwindigkeitsrekorde. In seiner „Reign In Blood“-Monografie hat D.X. Ferris nachgezählt, wie oft Lombardo beim Break in der Mitte des Songs die Double-Bassdrum anschlägt: 28 Mal in zwei Sekunden. Und dann der Gesang: Tom Araya ist bei allem scheinbar monotonen Gebrüll ein außergewöhnlich charismatischer und sich fein artikulierender Sänger. Im Gegensatz zu den Grunzern und Röchlern im Death Metal-Bereich kann man bei ihm verstehen, was er von sich gibt. Das hat den Effekt, dass nicht einfach nur eine düstere Grundstimmung entsteht, vielmehr ruft „Reign In Blood“ eine dichte Folge von Bildern und Szenen hervor. Wie ein Film eben.
Wie wichtig war es für Slayer, das Album auf Def Jam zu veröffentlichen und sich von Rick Rubin produzieren zu lassen? Ist das der Grund dafür, dass sich so viele Menschen für “Reign In Blood” begeistern können, die sich sonst gar nicht für Metal interessieren? Slayer fanden sich ja dann auch als Sample bei Public Enemy wieder.
Wie wichtig Rubin für musikalische Weiterentwicklung von Slayer war, merkt man, wenn man sich die ungestümen ersten beiden Slayer-Platten „Show No Mercy“ und „Hell Awaits“ anhört. Rubins Vorliebe fürs Extreme ist an eine ausgeprägte Pop-Sensibilität gekoppelt. Er hat das seltene Talent, eine Band so klingen zu lassen, wie sie klingen muss. Im Fall von Slayer hat Rubin aus einer okkultistischen Underground-Kapelle eine vollendete Rockband gemacht. „Reign In Blood“ ist eine der ersten Platten des Genres, die wirklich gut produziert waren. Andererseits trat Rubin bei den Aufnahmen offensichtlich eher wie ein Spiritus Rector auf, der die Richtung vorgab, als wie ein Hands-On-Producer. Rubin hat eigentlich keine Ahnung von Aufnahmetechnik, er sagt immer nur, was ihm gefällt und was ihm nicht gefällt. Für die Feinabstimmung war der Engineer Andy Wallace zuständig, mit dem Rubin schon bei der Produktion von Run DMCs „Raising Hell“ zusammengearbeitet hat und der später unter anderem auch für den Mix von Nirvanas „Nevermind“ verantwortlich war. Der Anteil von Andy Wallace am Sound von „Reign In Blood“ ist nicht zu unterschätzen. Rubin und er hatten sich lustigerweise in Arthur Bakers Shakedown-Studio kennen gelernt, wo Wallace sich einen Namen als Remixer gemacht hatte. Seine erste goldene Schallplatte hatte er 1980 für die Produktion vom Mtumes „Juicy Fruit“ bekommen. Der Deal mit Slayer war für Rick Rubin im Übrigen eine logische Konsequenz aus seinem eigenen Geschmack. Er wollte offensichtlich nicht nur sein Portfolio erweitern, er liebte die Band wirklich, seit er sie im New Yorker Ritz zum ersten Mal live gesehen hatte. Russell Simmons interessierte sich dagegen kaum für Slayer. Slayer wiederum fühlten sich mit Rubin verbunden, nicht mit Def Jam. So gesehen war das Slayer-Signing der Anfang vom Ende der Partnerschaft zwischen Rubin und Simmons. Andererseits hat Hank Shocklee das Def Jam-Roster mal mit der Addams Family verglichen. Das passten die bösen Buben von Slayer schon gut rein, und so war es auch nur folgerichtig, dass Kerry King bei „No Sleep Til Brooklyn“ eine Gitarreneinlage gab.
Rick Rubin hat ja nach “Reign In Blood” noch weiterhin Hip Hop produziert, mittlerweile ist er aber eher im Rockbereich zu finden. Ist “Reign In Blood” auch für seinen weiteren Werdegang entscheidend gewesen?
Ja, absolut. Rubin hat selbst gesagt, dass er nach „Reign In Blood“ nicht mehr als HipHop-Produzent, sondern als Musikproduzent wahrgenommen wurde. Slayer waren dann auch die erste und wichtigste Band auf seinem Def American-Label, mit dem er sich Ende der 80er offiziell der Rockmusik zuwandte.
Wie Rock waren seine HipHop-Produktionen und umgekehrt?
Es ist sicherlich richtig, dass schon seine frühen Produktionen für T La Rock und LL Cool J ein größere Nähe zu AC/DC hatten als zur Sugarhill Gang. Ich glaube aber, dass es bei Rubin gar nicht um die Frage „Hip Hop oder Rock“ geht. Der Mann hat von Anfang an einen ihm völlig eigenen Reduktionismus kultiviert, der durch die Beschränkung aufs Wesentliche aus einem Künstler den größtmöglichen Wumms herausholt. Das gilt genauso für die erste Platte von Public Enemy und die dritte Platte von Slayer wie für die letzte Platte von Johnny Cash. Gescheitert ist er nur an Metallica, aber auch das ist eine andere Geschichte.
Warum interessieren sich Hip Hop-Artists eigentlich eher für harte Rockmusik als andere? Geht es da um Posen, oder ist das musikalisch einfach kompatibler?
Es gibt schon gewisse Gemeinsamkeiten zwischen extremem Metal und militantem HipHop. Was Slayer mit zum Beispiel den Geto Boys verbindet, ist der Hang zu besonders expliziten Aussagen. Ich glaube aber, dass die Annäherung von HipHop und hartem Rock, die wir Anfang der 90er erlebt haben, hauptsächlich kommerzielle Hintergründe hat. Mag sein, dass Hank Shocklee ein echter Metal-Fan war, aber vermutlich sind Public Enemy vor allem deshalb mit Anthrax auf Tour gegangen, weil sie so ein ganz neues Publikum erreichen konnten, nämlich Bong rauchende Headbanger mit Schwarzlichtpostern in ihrem Zimmer. Ansonsten war es ja eher umgekehrt so, dass sich die Weißbrote plötzlich verstärkt für Hip Hop interessierten, wobei am Ende so alberne Bands wie Clawfinger oder Linkin Park herausgekommen sind. Slayer haben allerdings bis sich auf eine durchaus vertretbare Zusammenarbeit mit Ice-T für den Soundtrack von „Judgment Night“ nie auf irgendwelche Crossover-Mätzchen eingelassen.
Wie siehst Du die Kontroversen um das Image, das Artwork und die Texte von Slayer? War das die genreübliche Provokationstaktik oder hatte das eine andere Qualität? Durfte man nach Slayer mehr?
Die Vorwürfe, Slayer würden Nazi-Verbrechen verharmlosen oder gar verherrlichen, waren mir schon als Teenager zu oberflächlich. Und die blasphemischen Aussagen, die sie in den USA zum Schrecken der Moral Majority machten, hatten ja durchaus ihre Berechtigung. Zu den religiösen Gruppen, die mit Transparenten und Bibelsprüchen gegen Slayer-Konzerte protestieren, gehörten größere Spinner als zu den Konzertbesuchern. Das Ding war nur, das die einflussreichsten Gegner von Slayer in der Führungsetage ihrer eigenen Plattenfirma saßen. Die ganze Kontroverse begann mit einer sehr langen Rezension des Advance-Tapes von „Reign In Blood“ im Spin-Magazin, die Slayer vorwarf, sie würden den Holocaust wie eine Comic-Phantasie behandeln. Bei Def Jams Mutterfirma Columbia war die Nervosität damals ohnehin ziemlich groß, weil der Druck auf die Industrie wegen vermeintlich jugendgefährdender Texte immer stärker wurde. 1986 war Tipper Gores Elternorganisationen Parents Music Resource Center (PMRC) auf dem Höhepunkt ihres Einflusses, außerdem hatten sich ein Jahr zuvor zwei Jugendliche auf einem Spielplatz in Nevada die Köpfe weggeschossen, nachdem sie ausgiebig Judas Priest gehört hatten. Und dann muss man sich mal vorstellen, wie die Anzugträger von Columbia, darunter Präsident Al Teller, dessen Eltern von den Nazis ermordet worden waren, im Konferenzraum eines New Yorker Wolkenkratzers sitzen und sich die Slayer-Platte unmittelbar vor der Veröffentlichung noch einmal ganz genau anhören. Sie beginnt mit diesem infernalischen Schrei und den Zeilen „Auschwitz, The Meaning of Pain, The Way That I Want You To Die.“ Da waren die Missverständnisse natürlich vorprogrammiert: Die Manager waren entsetzt über das, was sie da hörten. Columbia wollte das Album nicht veröffentlichen, und so sind dann Slayer bei Geffen gelandet, wobei Geffen offensichtlich durchaus opportunistische Motive hatte, „Reign In Blood“ herauszubringen: Man wollte mit Rubin und seinem megaerfolgreichen Def-Jam-Label ins Geschäft kommen.
Die bildhaften und sehr detaillierten Texte können schon verstörend wirken, trotzdem glaube ich nicht, dass Slayer damit nur provozieren oder die Grenzen dessen ausdehnen wollten, was man sagen darf und was nicht. Dazu ist das Album viel zu subtil. In diesen Texten und dieser Musik spiegeln sich universelle Erfahrungen von Tod und Zerstörung in einer fast schon spirituellen Klarheit. Man kann „Reign In Blood“ durchaus als Topographie der destruktiven Ebenen des Unterbewusstseins lesen, und das Unterbewusstsein kennt nun mal keine Tabus. Es gibt da einige sehr interessante Parallelen zwischen den Themen von „Reign In Blood“ und den Erlebnissen, von denen Patienten berichtet haben, die zu therapeutischen Zwecken LSD verabreicht bekamen. Der Psychotherapeut und LSD-Forscher Stanislaf Grof teilt die Erfahrungsmuster, die unter Einfluss halluzinogener Drogen auftreten, in vier Hauptgruppen ein, die in engem Zusammenhang mit den traumatischen Phasen der Geburtsvorganges stehen. Bei Sitzungen, die Grof in den frühern 60er Jahren in Prag durchführte, durchlebten die Testpersonen den Kampf ums Überleben, der mit den Kontraktionen der Gebärmutter einhergeht, noch einmal in symbolischer Form. Dabei erfuhren sie Phasen einer immensen Verdichtung von Energie und ihrer explosionsartigen Entladung; Phasen, die oft aggressive und destruktive Elemente beinhalteten und mit komplexen Visionen von Naturkatastrophen, Weltuntergangsszenarien und sadomasochistischen Orgien verbunden waren, bei denen sie abwechselnd die Perspektiven von Opfern und Tätern einnahmen. Diese Phasen wurden als ekstatische Verzückung erlebt, in der Schmerz und Lust miteinander verschmelzen. Darüber hinaus berichteten Grofs LSD-Patienten immer wieder von der Begegnung mit einem alles verzehrenden Feuer, die als reinigend erlebt wird. Bei Slayer ist das so ähnlich: „Reign In Blood“ hat die reinigende Kraft eines Trips, indem es uns mit den hässlichen, abstoßenden und erschreckenden Aspekten des menschlichen Daseins konfrontiert, die auch in uns selbst verborgen sind. Diese Platte gleicht einem Gang durchs Feuer, an dessen Ende die Wiedergeburt steht.
Haben die Kontroversen die Musik ausgehebelt, oder waren Slayer dafür musikalisch zu gut?
Für mich war die kathartische Dimension dieser Musik schon immer zu präsent, als dass mich die Kontroverse um die Texte oder um das Bandlogo ernsthaft beschäftigt hätte. Ich glaube auch nicht, dass man die Musik von Slayer unabhängig von ihren Texten und ihrem Auftreten betrachten kann. Diese Aspekte bilden eine Einheit, die die Relevanz und die Schlagkraft dieser Band erst ausmacht.
Wenn man sich den Erfolg einen Schocktaktik-Adepten wie Marilyn Manson anguckt, unabhängig von seinen musikalischen Meriten, wie wichtig ist es als Vertreter harter Musik hart zu sein?
Dass Slayer überall auf der Welt so viele fanatische Anhänger haben, liegt nicht nur an der kompromisslosen Härte der Band, sondern auch an ihrer Integrität. Slayer sind über jeden Zweifel erhaben. In Sam Dunns Dokumentation „Global Metal“ sieht man iranische Kids, die neben Slayer-Graffitis posieren, um zu zeigen, wie hart sie drauf sind. Man ahnt, dass so ein Verhalten im Iran sehr unangenehme Konsequenzen haben kann. Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand bereit wäre, ein solches Risiko auf sich zu nehmen, um sich zu Marilyn Manson zu bekennen.
Wie fandest Du den späteren Weitergang von Slayer? Gibt es andere Alben, die Du ähnlich gut findest, oder haben sie es unterwegs verloren?
Die bis zu 250 bpm, die Slayer auf „Reign In Blood“ vorgelegt haben, waren nicht zu toppen, von daher was es folgerichtig, dass die Band danach einen Gang zurückschaltete. „South Of Heaven“ und „Seasons In The Abyss“ fielen deutlich langsamer aus als „Reign In Blood“, waren aber fast ebenbürtig, was die Einheit von Inhalt und Form betrifft. Nach der Live-Platte „Decade Of Aggression“ und dem Ausstieg von Dave Lombardo habe ich die Band dann ein wenig aus den Augen verloren. Ihre Sammlung von Punk- und Hardcore-Coverversionen, die 1996 unter dem Titel „Undisputed Attitude“ erschein, habe ich gerne gehört, die 90er-Platten, bei denen sie sich ein wenig vom Nu Metal beeinflussen ließen, fand ich dagegen nicht so interessant. Ein seltsamer Zufall wollte es, dass „God Hates Us All“ am 11. September 2001 erschien, und mit „Christ Illusion“ haben sie sich dann auf ihre Hochphase in der zweiten Hälfte der 80er zurück besonnen. Insgesamt würde ich Slayer ihre Beharrlichkeit und ihre Unbeirrbarkeit unbedingt zugute halten: zwölf Alben und kein wirklich schlechtes dabei, nicht einmal ein durchschnittliches – das muss Ihnen erstmal einer nachmachen. Der Einsatz von akustischen Gitarren, Ausflüge in der Welt der Rockballaden oder gar die Begleitung durch ein Symphonie-Orchester – als kommt für Slayer nicht Frage, denn sie wissen, was man von ihren erwartet. Ein bisschen wie Motörhead, nur viel besser. Metallica sind kommerziell geworden und haben sich dabei von ihrem eigenen Publikum entfremdet. Slayer sind sich stets treu geblieben. Das sieht man noch heute bei ihren Konzerten: Slayer SIND Metal. Sie betreiben ihre Musik wie einen Hochleistungssport.
Kannst Du Dir vorstellen, dass ein ähnlich gelagertes Album Dich nochmal so beeindrucken kann? Oder ist das etwa schon passiert?
Nein. Erstmal ist man als 14-jähriger natürlich noch viel empfänglicher für das, was einem vier gemeingefährliche Irre aus Kalifornien an sozialisationsrelevanten Botschaften durchzufunken haben, und außerdem glaube nicht, dass es heute überhaupt noch möglich ist, eine so definitive Ansage zu formulieren, wie Slayer das mit „Reign In Blood“ getan haben. Diese Form der Auflehnung und des Außenseitertums gibt es nicht mehr, Slayer haben mittlerweile Grammys eingeheimst und sind Teil des Rock-Establishments geworden. Was die norwegischen Schwarzmetaller Anfang der 90er zu bieten hatten, setzte zwar neue Maßstäbe in Sachen Nihilismus und Menschenverachtung, war musikalisch aber schon eine Retro-Veranstaltung, die dem atmosphärischem Geknüppel kaum etwas hinzufügen konnte, mit dem Celtic Frost bereits Anfang der 80er Jahre in Erscheinung getreten waren. Im extremen Rockbereich konnte man in den letzten Jahren zwar immer mal wieder spannende Entdeckungen machen, aber dabei handelt es um zum Teil völlig obskure Projekte, die nicht mal entfernt den Geltungsanspruch von Slayer haben können. Mit vielleicht einer Ausnahme: Eine vergleichbare Intensität wie bei Slayer habe ich zuletzt bei den Konzerten von Sunn 0))) erlebt, aber die erzielen ihre Wirkung nicht auf der Ebene von Zeichen und Assoziationen, sondern auf einem rein physischen Level, indem sie das Publikum mit dem kosmischen Mantra ihrer Zeitlupenakkorde ganz und gar durchdringen. Die ekstatische Verzückung, die sich dabei einstellt, ist nicht vulkanischer, sondern ozeanischer Natur.
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