Discogs

Posted: May 9th, 2006 | Author: | Filed under: Artikel | Tags: , | No Comments »

Am Anfang von Discogs vor sechs Jahren stand die Plattensammlung. Erst die vom Gründer Kevin Lewandowski und wenig später die anderer Websuchender, die bei der Recherche auf ausbaufähige Discographien stießen und der freundlichen Aufforderung nach Support des Archivs nachkamen. Man kann sich noch vage dran erinnern. Ich stolperte ebenfalls hier und da über die Seite, fand ein wenig Information, fand aber auch das Konzept etwas kryptisch. Dennoch fiel schon in dieser ersten Entwicklungsphase auf, dass bei jedem Besuch mehr Informationen verfügbar waren. Alternativ gab es für elektronische Musik noch eine Seite namens Amazing Discographies, bei der schon vor Discogs ziemlich viele Labels katalogisiert waren. Diese Seite ist allerdings längst verschieden, da man dort nicht die simple aber höchst effektive Idee mit dem Crosslink hatte und die einzelnen Releases keine Tracklist bereithielten. Als ich mich, durch Fälle von Beschaffungskriminalität in meinem Dunstkreis und das hölzerne Treppenhaus vor meiner Wohnungstür gemahnt, wenig später zur Katalogisierung meiner Sammlung entschloss, war alles schon gut gediehen, aber je nach Standpunkt angesichts des Zeitaufwandes musste bzw. konnte man noch viel beitragen. Gleichzeitig wurde schnell dem Komplettismus die Tür angelweit aufgestoßen und wahre Abgründe verpasster und ungeahnter Veröffentlichungen offenbarten sich praktisch zugreifbar selbst dem emsigsten Musikkonsumenten. So mancher Vielproduzent konnte sich vermutlich nur so an das eigene Schaffen erinnern, ausstehende Tantiemen inklusive. Bald war der namentliche Eintrag in punkto Google-Hit ein Ritterschlag und bald hatte Discogs den Ruf vom Hort nerdiger Otakus weg, deren eifrige Archivarbeit man mehr oder weniger belächelnd mit einem Bookmark versah. Als reines Tool für Nichtmitglieder ist die Seite jedoch auch weiterhin effektiv, was der offensichtliche globale Dauerbetrieb als führendes Referenzsystem in Plattenläden, Redaktionen und Spezialistenforen belegt.

Neben der passiven und aktiven Nutzung der Database gibt es jedoch auch andere Facetten meist personalisierter Art, die mit flotter Eigendynamik die Entwicklung der Seite zum monopolistischen Leviathan beschleunigt haben. Zum einen gibt es die Profile, über die man sich frei nach Gusto selbst präsentieren kann. Man gewährt abhängig vom eigenen Sendungsbewusstsein optional Einblick in die Plattensammlung oder Wantslist, Links und natürlich auch jeden nur denkbaren anderen Unfug. Zum anderen die Foren, wie üblich bei Discogs spartanisch und funktional im Look, jedoch von der Vielfalt der verhandelten Themen ein komplexer Mikrokosmos internationaler Perspektiven. Beide Bereiche sind die Grundpfeiler einer beachtlichen Community, ohne deren Idealismus und Enthusiasmus für das Medium Musik die ganze Sache kaum funktionieren würde. Das übergreifende Stichwort hierbei ist Kommunikation. Über die Profile finden bereits Geschmack- und Geistesverwandtschaften sowie Kauf- und Promotionsintentionen zusammen, in den Foren kann das im Austausch noch ausgebaut werden. So entstehen über einen längeren Zeitraum regelmäßiger Nutzung nationale wie internationale Kontakte und Netzwerke über Interessensgebiete, bei denen die Grenzen des rein virtuellen Umgangs längst überschritten sind. Man lernt über Discogs Leute in eigenen oder anderen Städten kennen und es entwickelt sich mit steigender Tendenz eine Art von Tourismus über die Landesgrenzen hinaus, alles auf der gemeinsamen Basis der Seite. Daneben hat sich seit 2003 der Community-Aspekt stark verändert. Bis dahin gab es nur wenige übergreifende Rubriken in den Foren, in denen von Useability-Frust, Anti-Trance-Debatten und Golfkriegsanalysen bis hin zu Lieblingsplatten und surrealem Nonsens alles und nichts dezidiert und meistens ziemlich harsch verhandelt wurde. Ursprünglich eher als Kommunikationsanhängsel anzusehen, entstand eine subversiv-unterhaltsame Seifenoper, welche den eigentlichen Zweck des Archivierens zuweilen überlagerte. Die Seite wurde somit auch für Mitglieder interessant, die bloß den Zeitvertreib suchten und die Community wuchs folglich auch abseits der Archivarbeit.

Es war abzusehen, dass der Fokus auf elektronische Musik und die Verwaltung der Seite angesichts des rasanten Wachstums das Potential nicht ausschöpfen konnten. Zunächst wurden die ächzenden Server durch bezahlte erweiterte Accounts mit Extras sowie Werbebanner verstärkt und der mit dem Betriebscode schon gut ausgelastete Inhaber engagierte einen Site-Manager für alle anderen Teilbereiche. Die Foren wurden jetzt ebenfalls moderiert und in unübersichtliche thematische Miniaturformate atomisiert, alles zur Vorbereitung einer Konsolidisierung von Discogs, welche schließlich darin mündete, dass in relativ kurzen Intervallen großmaschig andere Genres hinzugefügt wurden. Demzufolge wird Discogs in absehbarer Zeit das gesamte Spektrum von Musik abdecken können.

Es ist schwer abzusehen, wo Discogs bei dieser Wachstumsrate in Zukunft stehen wird. Einer Kommerzialisierung, die ungebremst über die Unterhaltung der Server hinausgeht, steht eine Community entgegen, die in vielen Fällen langjährige Mitglieder aufweist, welche die zahlreichen Metamorphosen der Seite sensibel bis misstrauisch beobachten. Das ist sicherlich auch darin begründet, dass bis auf den Inhaber und einen Site Manager niemand von Discogs ein Gehalt bezieht. Moderatoren und aktiven Mitgliedern bleiben so nur das Wissen um den Erfolg und Nutzwert eines kollektiven Unterfangens und die Unmengen von Tonträgern, die vor der Vergessenheit bewahrt werden konnten. Wer drohnengleich viel Freizeit für den Input und dessen Verwaltung opfert, möchte natürlich nicht auch noch dafür zur Kasse gebeten werden. Es gibt zwar die offizielle Ankündigung, Discogs nach dem Vorbild von Wikipedia zu Open Source zu machen, was jedoch aus Sorge über Nutzung der Daten durch Spam-Sites auf unbestimmte Zukunft verschoben wurde. Ein gewisser Argwohn gegenüber den Motiven des Managements wird auch dadurch hervorgerufen, dass die Seite sich zwar durch die freiwillige Mitarbeit auf User-Ebene weiterentwickelt, dieselben User aber bei Entscheidungen bezüglich der Funktionsweise kaum einbezogen werden. So werden zwar alle zukunftsträchtigen Entscheidungen in Threads detailliert abgewogen, die Argumente dieser Diskussionen haben aber zumeist nur wenig Einfluss bei der tatsächlichen Realisation. Infolgedessen klaffen der Anspruch genreübergreifender Benutzbarkeit und die Wirklichkeit genrespezifischer Archivierung oft auseinander.

Die Erfolgsgeschichte Discogs zeigt auf jeden Fall, dass der Spaß am Prinzip weit über den bloßen Sammlerinstinkt oder die Faszination akribischer Informationsverwaltung hinausgeht. Man kann sich durchaus vorstellen, dass man in Kooperation mit der Musikindustrie der reinen Information die entsprechende Audiodatei als Preview-Clip bzw. bezahlten Download zur Seite stellt. Eine beträchtliche potentielle Konsumentenschar ist über den Prozess der Mitarbeit bereits mit der Plattform identifiziert und die Palette potentieller Erwerbungen erweitert sich durch die Nutzung des Archivs stetig. Da fehlt dann eigentlich nur noch die Möglichkeit des direkten Zugriffs auf die Musik zur Vervollständigung eines neuen Massenmediums per Computer, das ohne Läden und Vertriebe auskommt. Für antiquarische Tonträger nichtgewerblicher Anbieter bleibt dann ja immer noch der Gebrauchtmarkt, im Ansatz als Discogs Marketplace ja schon eingeführt. Wenn Majors nicht so unbeweglich wären, kämen sie ja vielleicht auch auf die Idee, dass bei ihren unübersichtlichen Backkatalogen die Verbindung von Information und Musikdatei nicht völlig abwegig ist. Statistiken über regelmäßige Ebay-Nutzer im Bereich elektronischer Musik, also dem von Discogs am besten erschlossenen Bereich, könnten da sicherlich interessante Erkenntnisse über die Beziehung von Archiv und Konsum liefern, auch wenn es dort noch um herkömmliche Tonträger geht. Und wenn man schon gerade spekuliert, eventuell würde die Kommunikation mit anderen Konsumenten über eine Archivplattform auch dazu führen, dass man über User-Rating und Vorhören schneller erfährt, dass eine angepeilte Erwerbung im Vergleich zu einer „besseren“ Alternative zu vernachlässigen ist. Die Plattenfirmen könnten sich angesichts dieser virilen Selbstverwaltung ihrer Zielgruppen teure Marketingfeldzüge sparen und müssten sich dem Qualitätsdiktat der Erfahrungswerte an der Basis beugen und das Mittelmaß wäre bald besiegt.

Realistischer ist aber wohl vielmehr, dass Discogs, in Zukunft ungleich größer und multistilistisch, auf wahnwitzig umfassende, bedingt kostenpflichtige Dokumentation beschränkt bleibt und Anbieter nur noch sicherer ablesen können, wie hoch man die Schmerzgrenze für seltene Artefakte ansetzen muss. Die Musikindustrie wird weiter Geld verbrennen und das Mittelmaß lacht sowieso immer zuletzt.

De:Bug 05/06



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