Der Wiener DJ, Produzent und Grafiker Stefan Biedermann alias DJ Super
Leiwand oder auch Danube Super Leiwand, kurz DSL, ist ein Phänomen. Er
war österreichischer Mix-Champion, mit Scratch-Gastauftritten in den
Charts bei Falco und Edelweiss und überregional einflussreicher Radio-DJ
bei der Sendung „Dope Beats and Tribe Vibes“ im ORF. DSL gibt selten
Interviews und seine Diskografie ist übersichtlich: Ein Album, einige
Singles und Remixe, deren hohe Qualität ein Verlangen nach mehr
auslöste, – leider vergeblich. So sind es vor allem seine Engagements in
den Clubs, die die Legende von DSL fortgeschrieben haben. DJs mit
einem Repertoire aus HipHop, Reggae und Rare Groove gibt es viele, aber
der Flow von DSL ist und bleibt stilprägend. Inzwischen ist DSL auch als
Grafiker renommiert. Aus Anlass der Veröffentlichung des von DSL
designten aktuellen WM-Spielplans haben wir einige Freundinnen,
Weggefährten und Bewunderer gebeten, das Wesen von DSL in Worte zu
fassen.
„Kennengelernt habe ich Stefan 1988 beim „New Music Seminar“ in New
York. Er hatte mit Dr. Moreau’s Creatures – zusammen mit Peter Kruder,
Sugar B, Rodney Hunter und Oliver Kartak, dort einen Auftritt. Das war
eine frühe Wiener HipHop-Crew, die hatten damals einen Hit und wurden
eingeladen, den live in New York zu spielen. DSL war ca. 18, ich
Mitte 20. Er hatte Mitte Achtziger schon aufgelegt und bei DJ-Battles
mitgemacht. Das lief in Wien in Großraumdiskotheken. Ich mochte seine
unglaublich präzise Art aufzulegen. Er hat Turntablism als einer der
ersten in Wien verstanden. Da waren die meisten noch rockistisch
orientiert mit Nick Cave und so. HipHop wurde, wenn überhaupt, dann
höchstens auf LPs wahrgenommen, Stefan mischte mit Maxisingles. Das war
rebellisch, er hat HipHop als Kunstform verstanden, die Instrumentals
geliebt, fast mehr als die Vocal-Tracks. Ich bekam dann von Werner Geyer
ein wöchentliches 15-Minuten Fenster für HipHop in der „Musicbox“ beim
ORF-Radio und fragte Stefan, ob er die Mixes machen will. Das war Beginn
von „Dope Beats and Tribe Vibes“, einer HipHop.Sendung, die es immer
noch gibt. Stefan hat eine sehr musikalische Ader. Sein Gespür für
Timing ist grandios. Der Vater war Orchestermusiker und von dem hat er
wohl ein sehr gutes Gehör geerbt. Er ist jetzt Grafiker und lebt –
frisch verheiratet – wieder in Wien. Die Club- und Musikszene in Wien
hat keiner so geprägt wie er. Den Funk hat er in unsere Sendung
gebracht. Es hat mich sehr geprägt mit ihm zu arbeiten und ich habe
extrem viel von ihm gelernt.“
Katharina Weingartner, Autorin und Filmemacherin, Wien
„Anfang der Neunziger teilten DSL und ich uns den Freitag in dem
kleinen, aber immer vollen Wiener „Roxy-Club“. Einen Freitag er, den
nächsten ich. Arbeitszeit für uns DJs war von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr.
Wenn es voll war, ging es manchmal auch bis Mittags. DSL besuchte mich
an seinen arbeitsfreien Freitagen regelmäßig, nachdem der letzte Tropfen
in den Bars der Nachbarschaft geflossen war, kam er beschwingt hinter
das DJ-Pult und fragte mich, was ich im Moment an neuen Doubles
(Dupletten) habe. Im HipHop steigert der versierte DJ die Dramaturgie,
indem er mit zwei Kopien der selben Platte, – eine Instrumental-Version,
eine Vocal-Version – , den Track mit der Technik von Scratching in
kleinste Einzelteile zerlegt und damit die Crowd auf dem Dancefloor zur
kollektiven Ekstase bringt. DSL konnte man mit zwei Platten so lange
alleine lassen, dass sich ein Frühstück locker ausging und ich mir dann
nach einer Stunde die völlig durchgedrehte Crowd wieder abholen musste.
Dass er die ganze Zeit den selben Song spielte, checkte keiner.“
Peter Kruder, G-Stone Recordings, Wien
„Bevor DSL in den Neunzigern im Hamburger Golden Pudel Club aufzulegen
begann, gab es dort bereits zwei Plattenspieler, der zweite wurde aber
nie benutzt. DSL war der Erste, den ich dort mit zwei Plattenspielern so
virtuos habe auflegen hören, dass ich schier gebannt war. Damals waren
tatsächlich schon renommierte DJs im Pudel zu Gast oder legten
regelmäßig auf, jedoch gefühlt angeknüpft am vermeintlichen, – ich sags
ungern-, Trash-Pudel-Style. DSL kam und scratchte Soulplatten, oder war
es HipHop? Was waren das für Beats! Für ihn selbstverständlich und
extrem locker: das Doppeln und die Arbeit mit der Endlosrille – ein
einfacher Trick, wir Hamburger kamen aus dem Staunen nicht heraus.
Zauberei! Leiwand! Dazu die Optik: Schlaksige Körperlichkeit aus Mensch
und Turntables, Beine, Arme, Schallplatten, Hände und Regler, alles
durcheinander gewirbelt und dabei Musik herstellend, dann auf direktem
Weg zurück damit in diesen langen Körper. Whoosh! Bald hatte ich diverse
Gelegenheiten, höchstselbst mit ihm und seinem musikalischen Body
aufzulegen. Ich hatte die Deckel der Plattenspieler nicht beiseite
gelegt, sondern sie als Schutz vor Blicken extra hochgeklappt, um mich
dahinter zu verbarrikadieren. DSL: Bitte übernehmen Sie.
„Kaum volljährig und frisch nach Bayern gezogen, war die ab 1990 im ORF
ausgestrahlte Radiosendung „Dope Beats and Tribe Vibes“ Auftakt und
Höhepunkt meines Ausgehwochenendes. Oft hörte ich sie auf der Fahrt in
den Club und verharrte bis zum letzten Ton im Autositz. Der
redaktionelle Teil beleuchtete mittels Interviews und Reportagen direkt
aus den USA zunächst die aktuellen, damals rasanten Neuerungen im HipHop
und ordnete diese auch kulturell und soziopolitisch ein, bevor zum
Finale DSL, damals im deutschsprachigen Radio wohl einzigartig, einen
durchgehenden Mix spielte. Moderationsinhalt und der sehr eigene Duktus
zwischen Slang und Feuilleton prägten mir ein, dass die
unterschiedlichen Lebensumstände dem Fan das direkte Kopieren der
US-Vorbilder verbieten. DSL unterstrich diesen Eindruck akustisch mit
einem damals schon eigenen Stil und seinem Signatur-Trick, das selbe
Stück auf beiden Plattenspielern minimal zeitversetzt zu spielen und so
einen verwaschenen Flanger-Effekt zu simulieren. Als ich DSL dann später
an unserem mittlerweile gemeinsamen Wohnort Hamburg kennen lernen und
live hören konnte, verstand ich auch, wie persönlich sein Stil und wie
musikalisch sein Leben ist; im Umgang eher bescheiden und etwas
introvertiert, aber mit einem feinen, trockenen Schmäh und unbändigem
Enthusiasmus ausgestattet, ist Stefan kein DJ, der mit seinen
meisterlichen, technischen Fähigkeiten eitel protzend Musikstücke
zerschreddert oder das Publikum mit schalem Hit-Potpourri ködert.
Sondern er zieht einen mit seiner originellen Auswahl und weichen,
fließenden Übergängen in die Strömung. Ebenso individuell vermengt er
HipHop-Kultur mit seiner anderen Leidenschaft, dem Fußball: Angefangen
mit seiner Ode an Toni Polster, später als Präsident unseres
vielköpfigen, regelmäßig im Vereinsheim spielenden DJ Kollektivs „St.
Pauli Sound Supporters“, für das er auch alle Flyer gestaltete und
dessen Banner der Steh-Fan auch bei jedem Spiel prominent in der Kurve
platzierte, bis jetzt zu den einzigartigen, zunächst aus Spaß für das
gemeinsame Schauen in relativ kleiner Freundesrunde entworfenen
Turnierplänen. Kurzum: super-leiwand DJ, ur-ur-leiwand als Typ.“
Constantin Groll, Word&Sound Vertrieb, Hamburg
„Vor fast 30 Jahren standen wir hinter dem DJ-Pult der Disko im Wiener
Volksgarten, tranken was, rauchten und lauschten der Musik, als ich
unvermittelt ohnmächtig wurde, zu Boden ging und auf dem besten Wege
war, mir den Hinterkopf volle Kanne an der Thekenkante anzuschlagen.
Glücklicherweise war Stefan geistesgegenwärtig, wie sonst auch, fing
mich heldenhaft auf – man könnte auch sagen, ich sank in seine Arme –
und rettete mich. Das hinterließ einen bleibenden Eindruck. Abgesehen
davon hat er mich musikalisch sehr beeinflusst. Er brachte mir die
Instrumentals auf den Maxis näher, deren reduzierte Beats und Grooves
waren fortan mein Ding. Und auf den New Yorker Produzent Mark The 45
King wäre ich ohne ihn auch nicht gekommen. DSL ist sehr groß, sehr
verschmitzt, sehr begabt und ich muss ihn unbedingt wieder mal auflegen
hören!“
DJ Electric Indigo, Berlin
„DSL ist der DJ, der mir die schönsten Party-Nächte geschenkt hat. Er
hat die seltene Gabe, Menschen mit Musik überglücklich zu machen – wie
oft bin ich selig im ersten Morgenlicht nach Hause gewankt! Zum
erstenmal erlebt habe ich DSL in Hamburg Ende Achtziger auf einem
Openair-Soundclash an der Elbe – damals noch mit seinem Kollegen Sugar
B, und ich erinnere mich, dass wir da schon alle unseren Augen nicht
trauten über diesen langen Lulatsch an den Plattentellern. Später im
Pudel, hat Stefan meist im Sitzen aufgelegt, weil er sonst mit dem Kopf
durch die Decke gegangen wäre, und im Laufe der Nacht dann seine
mitgebrachten Stullen ausgepackt.“
Marga Glanz, Groove City Record Store-Inhaberin, Hamburg
„Von keinem anderen Künstler sind mir im Lauf der Jahre so viele Platten
abhanden gekommen, abgeschnackt oder stibitzt worden, wie von Wiens
allerfeinstem DJ DSL. Dies beweist zweierlei: Zum einen die turmhohe
Qualität seiner Produktionen, die rechtschaffene Tänzer zu spontanen,
aber irgendwo auch ehrenhaften Ganoven werden lässt, sobald der DJ nicht
genau aufpasst: Zum anderen die latenten Beschaffungsschwierigkeiten,
die mit seinen Platten stets verbunden waren. DSL-Vinyl war schwer zu
kriegen, kleine Auflagen auf Obskuro-Labels, echte, wirkmächtige
Fetische eben, denen ich immer noch nachflenne. Immerhin habe ich noch
das von ihm designte Sankt-Pauli-T-Shirt.“
Ich hatte gerade meine Teenagerzeit als Mod und Atrium-DJ abgestreift
und beim Wiener Plattenladen Dum Dum Records neues, Aufregendes
entdeckt, da hörte man von den Brüdern Biedermann: Stefan Biedermann
wurde zweimal in Folge DMC-Weltmeister, damit war die Legende geboren.
Danke, lieber DSL für deine Pionierarbeit!
Erdem Tunakan, Cheap Records, Wien
„Als ich Stefan das erste mal sah, stand er an einem Flipper im
legendären U4 Club in Wien. Er trug damals eine unglaublich stylische
Haarsträhne, die aus einem keck in den Nacken geschobenen Basecap
hervorquoll. Mir wurde er als der beste DJ Wiens vorgestellt. Was mir
sofort auffiel, war ein Move, den er mit seiner Hand machte, während er
den Flipper bearbeitete. In regelmäßigen Aufständen wische er seine
Fingerspitzen an seinem Hemd ab! Profimove! Dass er das auch beim
Scratchen machte, fiel mir erst später bei einem Auftritt mit den
Moreau’s auf. Ich hab mir diesen Finger-Move dann selbst angewöhnt und
mach ihn bis heute beim Auflegen!“
DJ Patrick Pulsinger, Wien
„What a Great Happiness, DSL hat es wieder getan und den ultimativen
WM-Spielplan entworfen. Das ist wohl seine größte Tat nach dem Remix von
„Happy Bear“ und seinem „Der Mond“-Remix für Rocko Schamoni. Stefan, wir
vom Hund am Hafen vermissen dich und deinen HipHop für Erwachsene sehr,
konnten aber deiner in Wien-lässt-sich-in-Schönheit-Sterben-Sehnsucht
keine Hamburgensie entgegensetzen, die dich zum Bleiben veranlasst
hätte. Ohne Dein Deejaying ist HipHop nie wieder wie vorher, nicht so
elegant und anmutig in seiner reinen Form.
Ralf Köster, Golden Pudel Club-Mitbetreiber, Hamburg
Finn, wann und wo wirst du das nächste Mal auflegen?
Das ist nächste Woche (Ende Dezember), da feiern wir zwei Jahre Druffalo in der Paloma Bar. Und zehn Jahre Druffalo insgesamt, aber das feiern wir schon das ganze Jahr lang. Wir machen das so ein bisschen wie am Anfang, denn Kummi und ich spielen 70er-Jahre-Disco auf dem oberen Floor. Da kommen aber auch recht viele Rare-Soul-Fans, um bei uns zu tanzen, weil sie Disco für sich entdecken. Für die gibt’s dann den unteren Floor.
Hast du dich schon auf den Abend vorbereitet?
Dieses Mal habe ich sogar schon komplett gepackt. Über Weihnachten fahre ich nach Kiel und komme erst kurz davor wieder, das wäre sonst zu hektisch geworden. Da habe ich jetzt die Tage einfach einen freien Abend genutzt und Platten rausgestellt und gepackt. Den Stapel noch schnell in den Trolley gerammt und ich könnte loslegen.
Reicht denn da überhaupt eine Tasche?
Ok, vielleicht werden es auch zwei. Bei so einer Disco-Nacht kannst du nicht die ganze Zeit nur ein Tempo spielen, das geht einfach nicht. Theoretisch ist es möglich, macht aber nicht viel Spaß. Deshalb habe ich in solchen Fällen immer noch eine zweite Tasche mit so langsameren Sachen dabei. Gerade bei so einem Discoabend muss das Ende eben emotional sein – und möglichst alle müssen weinen.
Kam das schon häufiger bei euren Partys vor?
Sehr oft sogar! Wir haben mit der Musik schon gestandene Männer zu Tränen gerührt.
Wieviel Auftritte hast du derzeit ca. pro Monat?
Das sind etwa drei bis vier.
Packst du dafür jedes mal neu oder bleiben schonmal alte Platten im Case?
Meistens packe ich komplett neu. Eine Ausnahme sind die Residencies, weil wir da halt schon einen bestimmten Sound spielen, ohne aber immer das gleiche Set zu spielen. Wir machen da ja nicht nur Disco, sondern auch mal Garage und so. Da achte ich aber auch darauf, dass ich mich nicht zu sehr wiederhole. Es gibt natürlich so ein paar Druffalo-Hits. Und bei der „Power House“-Reihe mache ich das eigentlich genauso. Ich habe so viele Platten in der Richtung, da muss ich mich nicht wiederholen. Da stellt man sich ja auch jeweils neu auf den anderen DJ ein. Für die Club-Gigs an sich packe ich aber wirklich immer komplett neu. Zum einen weil ich Routine hasse, das macht mich wahnsinnig. Und ich bin kein Touring-DJ und zwischen den Auftritten immer wieder zu Hause.
Gibt es aber dennoch so zwei, drei Platten, die du häufiger dabei hast?
Bei den Discoabenden muss ich auf jeden Fall eine Chic-Platte dabei haben. Für den Schluss gibt’s auch so ein paar Favoriten. Zum Beispiel „Touch Me In The Morning“ von Marlena Shaw. Und so eine richtig klassische Druffalo-Platte ist auch Nicolette Larson – „Lotta Love“. Beim House und Techno ist das zum Beispiel „Reasons To Be Dismal“ von den Foremost Poets, die habe ich wirklich oft dabei, so eine alte Nu Groove.
Wie lange brauchst du in der Regel, um Platten zu packen?
Das hat sich über die Jahre total geändert. Ich lege ja jetzt schon seit dreißig Jahren auf. Früher hatte ich immer die gleiche Grundprämisse: Was würde ich selbst gerne hören, wenn ich heute in den Club gehen würde? Früher habe ich dann aber immer viel zu viel mitgenommen, weil ich damals aber auch viel mehr improvisiert habe.
Was genau meinst du mit improvisiert?
Ich habe einfach losgelegt, eine Platte nach der anderen gegriffen, dann hat sich das von alleine ergeben. Da habe ich auch viel mehr stilistische Sprünge gemacht. Aber irgendwann wurde mir das dann zu viel, das alles mitzuschleppen und bekam so meine Rückenprobleme. Das hat mich dann auch irgendwann gelangweilt. Denn wenn man auf zu viele Sachen reagieren kann, verliert man irgendwann den Fokus. Ich konnte das sehr gut, sehr eklektisch und offen, aber dann bin ich dazu übergangen, eher thematisch aufzulegen.
Was sich in den letzten Jahren ja auch in deinen Mixen widergepiegelt hat. Man merkt, dass du dich gerne an Themen, Stilen und Genres abarbeitest.
Ja, auf jeden Fall. Ich habe ganz oft so einen Quartalsfimmel, wo ich gerade Spaß daran habe, etwas wieder oder auch neu zu entdecken. Und das nutze ich auch für Gigs, wenn es geht. Ich bereite mich inzwischen auf jeden Fall sehr genau vor. Einfach aus dem Grund, dass ich durch die ganzen Jobs und meine Familie kaum Zeit habe. Und da bin ich dann dazu übergangen, mir das insofern leichter zu machen, dass ich recherchiere, wo spiele ich, was ist das für ein Club, was läuft da normalerweise für Musik, was sind das für DJs mit denen ich auflege. Das lasse ich auch gerne mal meinen Booker fragen, was möchten die, was haben die von mir gehört, was sie toll fanden.
Führt diese genaue Vorbereitung und diese Abkehr vom eklektischen Auflegen dazu, dass du schneller packst? Weil du genauer weißt, wo du in deiner Sammlung gucken musst – und nicht nochmal alles durchgehst.
Nee, eigentlich nicht. Verschiedene Stile erfordern einfach verschiedene Arten der Vorbereitung. Es hat schon seinen Grund, dass auf vielen Discoplatten die BPM-Zahl steht. Das Live-Drumming ist da auf jeden Fall ein Faktor. Ich packe Disco zum Beispiel schon sehr strikt nach Tempo. Von da aus geht es dann um Harmonien oder Texte, die zueinander passen. Das ist eine andere Art von Vorbereitung.
Ich arbeite auch bei der Musik immer an recht vielen Dingen gleichzeitig, habe so vier bis fünf Stapel rumstehen, für bestimmte Auftritte oder manchmal auch Mixe. Die bestücke ich so nach und nach, das kann auch schon mal mehrere Wochen dauern. Wenn ich abends mal ein paar Stunden Zeit habe, wühle ich mich durch meine Sammlung, so macht mir das am meisten Spaß.
Machst du das bei anderen Platten auch, die BPMs drauf schreiben?
Ich spiele schon ewig Disco, das höre ich recht schnell raus. Die stehen nicht im Regal vorsortiert, aber wenn ich eine rausziehe, dann weiß ich das schon ungefähr einzuschätzen. Bei House-Sets ist das eigentlich überhaupt kein Faktor. Ich mag das, wenn man Sachen verknüpft, die sich gegenseitig als Referenz bedingen. Beim Reggae zum Beispiel das Original und dann die Version dazu, das kann man bei House auch machen. Also zum Beispiel einen Vocal-Mix mit einem Dub-Mix. Oder Cover-Versionen, einfach Tracks, die die gleichen Samples haben. Ich mag das, weil man da so kleine Botschaften verpacken kann. Ich kaufe die Platten nicht gezielt danach, das sind eher so Zufallsfunde, wenn ich so durch die Regale gehe. Das mag ich so daran, dieses Beschäftigen mit der eigenen Sammlung. Read the rest of this entry »
„Liquid Air“ erschien 1992, also zwei Jahre vor Eröffnung des Ultraschalls. War der Track wichtig bei den vorhergehenden Underworld-Parties, und dann auch noch im Ultraschall?
Monika Kruse: Air Liquide waren sehr oft als Live Act im ersten Ultraschall gebucht, irgendwie gehörten sie fast mit zur Familie. Der Track „Air Liquide“ war jetzt sicherlich nicht im weitläufigen Sinne ein großer Hit, aber er spiegelte den Sound vom Ultraschall und Air Liquide sehr gut wider.
Robert Armani – Circus Bells (Hardfloor Remix) (Djax-Up-Beats, 1993)
Dieser Track ist eine kongeniale Verbindung von Techno aus Chicago und Deutschland. Spielten solche kulturellen Transfers eine Rolle in der Münchner Szene? Und wie wichtig waren 303-Sounds?
Acid spielte natürlich ein große Rolle, aber eine größere Rolle spielte immer noch der Sound von Chicago und Detroit. Der Hardfloor-Remix von „Circus Bells“ hat beide Richtungen perfekt repräsentiert.
Wiener Techno Artists brachten Platten auf Upstarts in München ansässigem Label Disko B heraus. Gab es da eine Achse zwischen den beiden Städten, inklusive wechselseitiger Beeinflussung und Zusammenarbeit?
Es fand ein großer Austausch zwischen den Wiener Künstlern der sogenannten Cheap-Posse und dem Label Disko B statt. Upstart, einer der Ultraschall-Besitzer, dem auch das Label Disko B gehört, buchte gerne die ganze Posse um Patrick Pulsinger herum, wir wiederum fuhren auch für Disko B-Nächte nach Österreich. Wenn die Österreicher bei uns spielten, war das Überraschungsmoment immer gegeben, entweder total morbide Tracks, dann wieder seriöser Techno, oder auch mal House. Diese Alles-ist-möglich-Haltung im Sound der Österreicher war dem Ultraschall-Spirit sehr nahe.
K. Hand – Global Warning (Warp, 1994)
Ein klassischer Techno-Banger aus Detroit. War das ein Track, der für dich spezifisch für das erste Ultraschall ist?
Definitiv war das der Sound der Zeit des ersten Ultraschalls. Viele Künstler aus Detroit wurden damals gebucht, beispielsweise spielte am Eröffnungsabend Jeff Mills. Aber auch DJs wie K. Hand, Underground Resistance, Robert Hood, Juan Atkins und andere waren regelmäßige Gäste.
DBX – Losing Control (Accelerate, 1994)
Daniel Bells „Losing Control“ war ja ein international übergreifender Club-Hit. Welche Rolle spielte der Track im Ultraschall?
Für mich steht der Track eher für das gesamte Feeling, das wir im Ultraschall hatten . „I am losing control“. Da spielten DJs in der Gästetoilette, Robert Görl ( DAF) machte einen zehnstündigen Liveact genau an der Eingangstür, Matthew Herbert sampelte Chipstüten für sein Live-Set und einmal stand auf dem Dancefloor am Ambient-Wochenende ein Riesenbett. Jedes Wochenende passierte irgendetwas in diesem Club, was dir als Gast und als DJ das Gefühl gab, komplett weg aus der Realität zu sein, und die Kontrolle des Alltags abzugeben. Dazu passte der Track natürlich extrem gut!
Im Sommer 1996 schloss das erste Ultraschall, und das zweite eröffnete wenige Monate später. Markiert dieser Detroit Electro-Klassiker diesen Übergang?
Das würde ich so nicht sagen. Der Grund, dass das erste Ultraschall geschlossen wurde, war ja weil der Vertrag auslief, soviel ich weiß. „Pornoactress“ war einfach ein toller Track , der von uns oft gespielt wurde, hat jetzt aber nicht irgendein Ende oder einen Neuanfang eingeleitet. Damals spielte man einfach viel mehr Electro, Electro Boogie und sogar auch mal Drum & Bass.
I-F – Space Invaders Are Smoking Grass (Viewlexx, 1997)
Nochmal Electro, diesmal aus Holland. In jenen Jahren formulierte sich diese Mischung aus Electro, New Wave, Disco und Techno, die Hell dann auf seinem Label International Deejay Gigolos bündelte. Wurden die Weichen dafür im Ultraschall gestellt?
Das Ultraschall war immer sehr offen für alle Arten von Stilen. Wir Resident DJs wie Cpt. Reality, Lester Jones, DJ Hell, DJ Barbara Preisinger und ich hatten alle unseren eigenen Stil. Dazu kam dann noch das Booking der Gast-Djs, die den Sound noch spezieller machten. Ich glaube das Ultraschall hat viele Weichen für Labels und spätere Clubs gestellt , aber auch die einzelnen DJs haben durch ihren Stil das Ultraschall geprägt.
Grungerman – Fackeln Im Sturm (Profan, 1997)
Spielte die Kölner Auslegung von Minimal Techno eine besondere Rolle im Club, oder bezieht sich die Wahl dieses Tracks eher auf das Wirken von Wolfgang Voigt in dieser Zeit? Und mochte man in München diesen Humor?
Oh ja , im Ultraschall liebte man den Kölner Humor und überhaupt generell die ganzen Kölner DJ- und Produzenten-Szene. Ich betone das Ultraschall, ich würde das nicht auf die gesamte Münchner Techno-Szene übertragen. Das erste Ultraschall war immer eine Insel. Zwar lag der Club bei München, am ehemaligen Flughafen Riem, aber die Lage war wie der Club selbst, nämlich abseits. Der Club und sein Sound, die Gäste waren irgendwie so unmünchnerisch. Eher links, alternativ, punkig, verrückt. Somit passte der Kölner Sound, der auch sehr eigen war, da wunderbar rein. Mike Ink, Michael Meyer, Burger, Reinhardt Voigt etc. waren gern gesehene Gäste, und ihre Tracks liefen oft im Ultraschall.
Richard Bartz – Ghettoblaster (Kurbel, 1997)
Richard Bartz war sicherlich ein integraler Bestandteil der Geschichte des Ultraschalls. Wurde seine Musik durch den Club geformt, oder war es auch umgekehrt?
Ich glaube, dass er sich damals mit 17 Jahren schon in den Club geschlichen hatte und definitiv von dem Sound, der Wildheit, und dem ganzen Spielraum inspiriert war. Dadurch dass er später auf Disko B selber veröffentlichte und auch Produzent von DJ Hell wurde, hat er sicherlich auch wiederum etwas zur Soundgestaltung des Clubs beigetragen.
Johannes Heil – Paranoid Dancer (DJ Hell Remix) (Kanzleramt, 2002)
Das Ultraschall schloss im Januar 2003. War dieser Track ein definitiver Hit, der für die Endphase des Club steht?
Ich habe den Track eher aus dem Aspekt gewählt, dass er genau dem früheren DJ Hell- und Johannes Heil-Sound entspricht, bzw. einfach das Techno-Feeling der letzten Ultraschall-Jahre gut wiedergibt. Etwas düster, und wir waren natürlich alle etwas paranoid in München, als das zweite Ultraschall dann plötzlich mitten in der Stadt aufgemacht hatte, und die Polizei uns Raver nicht mit Samthandschuhen angefasst hat.
Als Dein erstes Buch Loves Saves The Day erschien, gab es schon mehrere Bücher über die klassische Ära Disco-Musik der 70er in New York, aber es stach hervor. Was bewog Dich, es zu schreiben?
Disco von Albert Goldman erschien 1979, aber es handelte vornehmlich vom Club Studio 54. Es gab darin eine ziemlich rassistische Referenz über David Mancusos Club The Loft und flüchtige Erwähnungen eines weiteren DJ-Pioniers, Francis Grasso. Zudem schrieb Anthony Haden-Guest The Last Party, aber darin ging es auch hauptsächlich um das Studio 54 und deren Celebrity-Kultur. Beide hatten ein anderes Interesse an Nightlife-Kultur, und das hatte nichts mit DJs zu tun, und ich dachte, dass sie an der eigentlichen Dynamik vorbeigingen, die Partys so interessant macht.
Stimmt es, dass Loves Saves The Day ursprünglich als Einleitungskapitel eines Buches über House-Musik gedacht war?
Ja, das stimmt. Das Buch über House sollte in Chicago Mitte der 80er einsetzen und dann zum New York der späten 80er übergehen, und von dort zu den Anfängen der englischen Rave-Kultur. Ich bin 1967 geboren, für mich war Disco also Musik, die ich zu ihrem Gipfel 1977/78 als Kind gemocht hatte. Als ich wirklich anfing, mich für Musik zu interessieren ging ich aus und interessierte mich für House. Aber ich interviewte für das Projekt DJs wie Tony Humphries, Frankie Knuckles, oder David Morales, und sie alle erwähnten einen anderen DJ als großen Einfluss, und das war David Mancuso. Also traf ich mich mit ihm und er riet mir, nicht nur mit Disco anzufangen, sondern mit der Zeit davor, den frühen 70ern. Zuerst behagte mir die Idee nicht, aber als Journalist erkannte ich, dass da eine Story war. Und es ist auch wichtiger Teil von Nachforschungen, den Ursprüngen nachzuspüren, und ich sah mich immer zwischen dem Journalismus und dem akademischen Betrieb. Also vergrub ich mich in das Thema für die Einleitung, und 500 Seiten später war ich im Jahr 1979 angelangt, und beendete ein völlig anderes Buch. Ich erkannte sehr früh, dass die wichtigste Entwicklung in dieser Kultur stattfand, als die Kommunikation zwischen DJ und tanzendem Publikum einen völlig neuen Umgang mit der Musik einführte. Und es war auch Teil der Gegenkultur, eng mit den sozialen Kräften verbunden, die in den USA dieser Ära am Werk waren: die Schwulenbewegung, Bürger- und Frauenrechte, LSD-Experimente, und die Anti-Kriegsbewegung.
Hatten die Interviewten des Buches schon darauf gewartet, ihre Geschichte erzählen zu können?
Ja, denn bis dahin wurde ihre Geschichte nicht wirklich erzählt, auch wenn ihr kultureller Einfluss in den 70ern enorm war. Als ich nach dem ersten Interview mit David Mancuso nach Hause kam, hatte sich schnell herumgesprochen, dass man mir trauen konnte, und ich hatte einige Nachrichten von seinen Freunden auf dem Band, unter anderem vom DJ Steve D’Acquisto, der mich wiederum Francis Grasso vorstellte, und dann ging es von dort weiter. Das alles geschah ab 1997, bevor einige von ihnen mit Bill Brewster und Frank Broughton für ihr Buch Last Night A DJ Saved My Life sprachen. Als Mancuso und Grasso Anfang der 70er anfingen aufzulegen, gab es einen demografischen Wandel auf den Tanzflächen, und beide legten den Grundstein für das, was wir heute unter DJ-Kultur verstehen. Grasso war z. B. der Stamm-DJ des Sanctuary, das bis Ende der 60er eine heterosexuelle Diskothek war, und dann die erste, die Schwule einließ. In den 60ern musste der DJ ab und zu die Tanzfläche abwürgen, damit die Bar ihren Umsatz machen konnte. Aber dann wurde irgendwann so frenetisch getanzt, dass Grasso diese Intensität hochhalten wollte, und dafür erfand er die Technik des Mixens von zwei Platten. Die Herangehensweise von Mancuso war hingegen, als musikalischer Gastgeber einer Privatveranstaltung zu fungieren, in seinem eigenen Loft, ausgestattet mit einer hochwertigen Hifi-Anlage, und seine Gäste auf eine musikalische Reise zu schicken. Und seine erste Party fand am Valentinstag 1970 statt, unter dem Motto „Love Saves The Day“. Es führt eine direkte Linie vom frühen Loft zu anderen New Yorker Clubs wie der Paradise Garage, deren Besitzer Michael Brody und Stamm-DJ Larry Levan regelmäßige Gäste waren. Auch Robert Williams ging dorthin, was ihn dazu bewog, das Warehouse in Chicago zu eröffnen, in dem Frankie Knuckles als DJ die Grundfesten von House errichtete. Alle Wege führten zurück zum Loft, es war alles verbunden.
War es Dir ein Anliegen, die politischen Aspekte von Disco hervorzuheben?
Absolut. Die Reaktion gegen Disco fand ihren Höhepunkt in der Disco Demolition Night bei einem Baseball-Match im Comiskey Park-Stadion in Chicago am 12. Juli 1979. Ein lokaler Radio-DJ hatte dazu aufgefordert, Disco-Platten mitzubringen und jagte sie dann zwischen zwei Spielen in die Luft. Es war eine Gegenreaktion im Mittleren Westen. Ich würde argumentieren, dass die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten dort begann. Es ist die gleiche Zusammensetzung und Grundstimmung einer Bevölkerungsgruppe, die sich sich ökonomisch abgehängt fühlte, und Disco-Kultur wurde zum Sündenbock für den Verfall der Industrie. Ich interessiere mich immer für die Korrelation zwischen einer Mikrokultur und der Makrokultur, in der sie erfahren wird. In diesem Buch ging es um mehr als nur Disco. Disco-Musik definiert als solche gab es erst ab 1974, es gab also schon vier Jahre davor, in denen all diese Entwicklungen stattfanden.
Hattest Du während des Schreibens den Musiker Arthur Russell schon als Schlüsselfigur ausgemacht, an dem sich die Verbindungen dieser Entwicklungen aufzeigen ließen? Er wurde dann ja der Mittelpunkt Deines nächsten Buches Hold On To Your Dreams.
Definitiv. Während der Gegenreaktion wurde es offensichtlich, dass sich die Disco-Szene, wie sie im Film Saturday Night Fever dargestellt wurde, weit von ihren Ursprüngen entfernt hatte. Sie explodierte zu einem Lebensstil, und selbst Disco DJs hatten es satt. Die Qualität der Musik hatte stark abgenommen und es war an der Zeit für etwas Neues. Steve D’Acquisto stand Arthur Russell sehr nahe und schlug mir vor, ein Buch über ihn zu schreiben. Mir wurde klar, dass ich nicht wie automatisiert Chronologie und Themen abarbeiten wollte. Mein Lektor war zuerst besorgt, dass sich nicht genug Leute für Russell interessieren würden, denn seine Musik wurde zwar noch gespielt und gehört, aber nach seinem Tod 1992 verschwand er als Person aus der öffentlichen Wahrnehmung. Aber 2003 schrieb David Toop einen langen Text über ihn in der Zeitschrift Wire, da zwei posthume Veröffentlichungen bevorstanden, und das Interesse lebte wieder auf und machte das Buch möglich. Natürlich war er ein interessante Person, aber ich hatte mich nie wirklich für die Gattung der Biografie interessiert. Ich interessiere mich für Szenen, die nach dem Mitwirkungsprinzip funktionieren. Arthur Russell hatte sich aber immer für Kollaborationen begeistern können, und die sozialen Erfahrungen, die durch Musik ermöglicht werden, und er war von sich aus offen für verschiedene Arten von Musik. Daher wurde er zu dieser Schlüsselfigur, die sich durch verschiedene Szenen von Downtown New York bewegte, wie etwa Orchestrale Musik, Punk, dann Disco und Hip Hop sowie Folk und Dub. Und er bewegte sich nicht der Reihe nach, und wechselte eine Szene durch eine andere aus, er machte es ohne Priorisierung und ohne hierarchisches Denken. Er wollte, dass die Szenen eine simultane Konversation haben, und er war sehr mobil. Read the rest of this entry »
Wie wichtig war die englische Explosion zwischen Indie- und Clubkultur im Gründungsjahr des Milk! Wollte man diese Entwicklung bewusst auffangen, oder war das nur ein Bestandteil unter vielen?
DJ Seebase: Es erschien mir schlicht konsequent. Insbesondere Dirk (D-Man) Mantei und Gregor (G.O.D.) Dietz haben da schon lange vor dem Milk mittels diverser Parties und Clubreihen die Grundsteine gelegt. Und Holger „Groover“ Klein hat schon immer alles aufgesagt, was es an Aufregendem gab und gibt. Ich weiß es zum einen nicht genau und ich will keinem der Jungs zu nahe treten aber als „Entwicklungen bewusst auffangen“ hätte das vermutlich keiner verstanden. Es fühlte sich so vieles so richtig und so wichtig an. Und „Loaded“ steht hier ja für sehr, sehr vieles zwischen Sheer Taft, Peter Hooton, Boy’s Own und Shaun Ryder. Unter anderem auch für das riesige Screamadelica-Wandbild in Holgers Küche (das von einer hochbegabten Freundin gemalt wurde, die wie man sagt, nach dem unsäglichen Green-Day-Konzert im Milk mit einem von ebendenen gefummelt haben soll, haha). Und natürlich für den immergroßen evergrowing Andrew Weatherall. Aber nunmal in der Hauptsache schlicht für das, was da gesagt wird: „And we wanna get loaded. And we wanna have a good time. That’s what we’re gonna do. (No way, baby, let’s go!). We’re gonna have a good time. We’re gonna have a party“. Und nun ja, dann haben wir das eben gemacht.
Ramjac Corporation – Massif (Irdial Discs, 1990)
Das exzentrische wie innovative Irdial-Label war stets ein Garant für Kreativarbeit auf Nebenspuren. Das war ein Prototyp für das, was wenig später flächendeckender kommen sollte. Damals nannte man das noch Breakbeat Techno, nicht wahr? Leiteten solche Platten im Milk! die spätere Breakbeat-Begeisterung ein?
Breakbeat war in der Tat die gängige Nomenklatur. Aber das hier war fast schon ein mythischer Tune, an dem sich sehr sehr viele Geschichten festmachen. Von echten Schamanen, die eine „planetare Aktivierung“ propagierten, über sagenhafte Morgen auf der Heidelberger Neckarwiese mit Holgers Boombox bis hin zu der Tatsache, dass Redagain P (Milk EP) Riesenfan des Stückes war. Auch der Beatdown war irgendwie wichtig für’s Selbstverständnis. Da war ja immer noch dieser Teil in vielen von uns, der auf der Ami-Kirmes am Boxauto gestanden hatte und der Native Tongues wie Silver Bullet gleichermaßen verehrte. Und Soul II Soul (Phil Asher hat auch einmal im Milk aufgelegt). Welche Platten es waren, die da den Ausschlag gaben, ist schwer zu sagen. Es war ein sicher wichtiger DJ-Auftritt von Nils Hess und dann nunmal in allererster Line Holger, die die Begeisterung für Breakbeats eingeleitet haben. Und eine nicht zu unterschätzende spätpubertäre Frankfurt-Opposition, von der noch zu reden sein wird.
Rotor – Salad Hammer (Chill, 1991)
Ich nehme an Bleeps aus Sheffield waren ein anderer wichtiger Bestandteil des Milk!-Sounds. War diese Kombination von hohen und tiefen Frequenzen besonders effektiv in diesem Club?
Für mich persönlich waren „Testone“ oder „Clonk“ von Sweet Exorcist echte und beinharte Erweckungserlebnisse. Und wenn ich irgendetwas aus dem Milk-Kosmos nochmal gerne fühlen würde, dann wäre es dieser spezielle, und wahrscheinlich irrsinnig verklärte, Keller-Basspunch. Diese Bassline und Blitzlicht. Danke, Glück, verweile doch! Ich war 94 mal im Warp-Laden in Sheffield. Ich habe vor Ehrfurcht keinen Ton herausgebracht. Die Tüte habe ich heute noch. Und die gute alte, später ebenfalls für’s Milk nicht unwichtige Hazel B arbeitet jetzt bei Designers Republic. Sie war ja vorher schon eine super Person aber, hey, die kennt diese Legenden! Im Ernst: Dieser Tune trägt in seiner Rohheit für mich ganz essenzielle Züge. Und jetzt bitte noch im Geiste die Shoutouts aus „How Ya doin“ von Nightmares On Wax runtersingen.
Altern 8 – Infiltrate 202 (Network, 1991)
Altern 8 waren ja so eine Art Rave-Fortführung von The KLF, und ihre Tracks oft eine wilde Mischung aus allen Winkeln energetischer Clubmusik. War das ein Milk!-Kriterium, alles geht, so lange es euphorisch ist?
Holger hat die spätere Residency von ihm und Bassface Sascha im XS in Frankfurt hiernach benannt: Bassbin. Ansonsten ist das hier alles so wahnsinnig stimmig. Bis hin zur Druckluft-Tröte. Und „Euphorie“ war sicher ein Thema, aber als ganz so wahllos würde ich das nicht stehen lassen wollen. Holger und ich vereint u.v.a. eine sehr skeptische Haltung gegenüber den Quatschtüten von Prodigy („Android“ jetzt mal bei Seite – was zu „Infiltrate 202“ ganz gut passt). Ich würde eher sagen, dass im Milk! eine irgendwie unausgesprochene Soundsystem-Kultur herrschte. Das Publikum hat schon sehr stark interagiert, und z. B. auf uns eingeredet jetzt doch endlich mal den „Haifisch-Tune“ (DJ Excel – Just When You Thought It Was Safe) zu spielen. Nicht eben ein fröhliches Liedlein. Wie auch „Mr. Kirk’s Nightmare“ und andere. Aber Altern 8 habe ich einfach nur geliebt. Ob nun das hier oder „Frequency“ oder, ebenfalls ein Muss: „ Brutal-8-E“
QX-1 – Love Injection (Rhythm Beat, 1991)
Mike Dunn trifft Larry Heard, eine geradezu erschütternde Deep House-Hymne. Wurde mit solchen Tracks die Ekstase in emotionalere Bahnen gelenkt? Wie wichtig war Deep House im Milk!-Kosmos?
Ich für meinen Teil, und ich glaube Holger stimmt da mit mir überein, habe das nicht so getrennt betrachtet. Ich empfinde das hier zudem als ausgesprochen ekstatisch. In dem Sinne, der irgendwann mal als „Trance“ verdummbeutelt wurde, aber ja nunmal nicht von der Hand zu weisen ist. „House“ war für mich persönlich allerdings der Weg. Wen es interessiert, in Hans Nieswandts Buch „Plus Minus Acht“ steht auch ein bisschen was zu dem, was für mich im Milk seinen Anfang nahm. Und wenn Du wissen willst, wie wichtig Deep House war, frag mal irgendeinen aus der Posse nach M1’s „Feel The Drums“ oder Basil Hardhaus’ „Hard For The DJ“. Oder nach „Generate Power“. Oder U.P.I.s „She’s A Freak“ und so unendlich vielen mehr. Die werden reihenweise Tränen in den Augen haben. Das waren alles Milk-Hits. Und dann gab es noch dieses Tape von DJ Ralphie aus Riccione (wo Dirks damalige Freundin Susanne und Tabea Heynig getanzt hatten), das uns verzaubert hat und eben einen ganz anderen Vibe, ganz anderes Mixing, ganz anderes alles repräsentierte. Im Übrigen sei hier dann angemerkt, dass das Milk kein originärer Gay-Laden war aber von hier aus eine ganze Reihe wegweisender Gay-House-Parties ihren Weg nahmen.
Rum & Black – Insomnia (Shut Up And Dance Records, 1991)
Shut Up And Dance waren enorm wichtige Pioniere der Breakbeat-Musik, und diese dreiste Version von Badalamentis Twin Peaks-Thema ziemlich typisch für ihre Haltung. Aber warum speziell dieser Track aus ihren an Höhepunkten reichen Back-Katalog?
Ich hätte gerne „The Green Man“ genommen, weil das Sakamoto-Sample eine Tür zu Gregors (Ruhe in Frieden, mein großer Freund) riesiger Sammlung u.a. des Yellow Magic Orchestra aufgemacht hätte. „Autobiography Of A Crackhead“, „Lamborghini“, Nicolettes Gesamtwerk, bis hin zu „Raving I’m Raving“ natürlich, was zweifelsfrei für einen der großartigste Momente stünde, den ich je auf einer Love Parade erleben durfte. „Ecstasy pouring down on me“ 1992 am Wittenbergplatz. Als Andre DJ Pussylover am Milk-Truck vor Glück die Rasenrabatten gevögelt hat. Und er war noch nicht mal der Glücklichste, meine ich mich zu erinnern. Aber zum einen wird generell viel zu selten auf „Rum & Black“ und dieses großartige Album hingewiesen („Funky Emotions“ allein!) und zum anderen ist der Umgang mit dem Twin-Peaks Thema in Ergänzung zu Mobys „Go“ schon sehr typisch für unser damaliges Mannheimer Selbstverständnis. Von Moby lief bei uns zu der Zeit „Next Is The E“, während in der Frontpage die wirklich dämliche B-Seite „Thousand“ für wegweisend befunden wurde. Was jetzt mal wirklich Quatsch war.
YBU – Soul Magic (SSR, 1991)
In den frühen 90ern war es ja durchaus üblich das Tempo mehrmals pro Nacht zu variieren. Wann liefen solche sonnendurchfluteten Downbeat-Hymnen? Und wie wichtig war das Balearic-Thema jener Zeit in Mannheim?
YBU war neben „Strings Of Life (Beatless)“ wohl der wichtigste Putzlicht-Track. Tempodrosselung mag ja ein Merkmal sein aber „Soul Magic“ fordert ununterbrochen auf es „zu fühlen“. Das haben die Leute mitgehaucht und empfunden. Dass man heute erklären muss warum Slow Jam und in-your-face durchaus intensitätsgleich sein können, scheint mir schon vielsagend. Und klar ging es irgendwie balearisch eklektisch zu, nur dass ich zumindest das Wort nicht kannte. Ich kannte einen für mich damals magischen Ort, der an einem Abend namens Mo-better-Milk so etwas wie Dance-Jazz aus einer durchaus auch balearischen Mod-Ska-Tradition beleuchtete und an einem anderen Abend von Manchester und New York über Kingston nach London und Detroit alles abklapperte was irgendeinen bestimmten Geist atmete.
The Morning Glory Seeds – E-Motions X-Pressed (Djax-Up-Beas, 1992)
Mediterran anmutender Rave-Techno aus Holland. Ich mochte es ja sehr, dass zu dieser Zeit so viele landestypische Indikatoren völlig vermengt und verwischt wurden, bis zur Unerheblichkeit. Wurde das ein Peaktime-Track, oder eine Mobilisierung zu anderen Zeitpunkten der Nacht?
Dieser Track steht hier für etwas vollkommen anderes. Nämlich für den Back-Room, in dem eine Zeit lang DJ Soundball eine irrwitzige Kaskade von Detroit-Techno-Soul aufgelegt hat. Das Hinterzimmer war ein wichtiger Ort. Eine Zeit lang war es insofern wortwörtlich der Chill-Out-Raum, als dass KLFs gleichnamige Jahrhundertplatte einfach nonstop die ganze Nacht lief. Und dann eben ein Spielfeld, wo Eddie Flashin’ Fowlkes sicher viel Freude gehabt hätte. Es war aber auch der Ort, an dem Holger überhaupt angefangen hat das Milk! zu formen. Aber es war eben auch so, dass aus dem eher Hintergründigen, Kontemplativen des Raumes solche Rave-Momente erwuchsen.
Nu-Matic – Hard Times (XL Recordings, 1992)
Noch trug UK Breakbeat stolz die traditionelle Reggae-Soundsystem-Kultur vor sich her, das Tempo war noch moderat. Aber hier setzen auch schon die härteren Sounds ein, und nur wenig später sollte sich das mit Hardcore alles potenzieren. Wie ging man im Milk! mit diesen Tendenzen um?
An dieser Stelle sollten Unmengen klassische Milk-Hits wie Agents Oranges „Sounds A Bit Flakey“, Acens „Trip To The Moon“ oder Sound Corps „Dream Finder“ stehen. Man könnte hier natürlich auch Unmengen deutlich aufregenderer Reggae/Ragga-Sample-Tunes aufzählen, wenn es da nicht diese eine Begebenheit mit „Hard Times“ gäbe. Sie kulminiert in einem Moment, als während irgendeiner Groß-Rave-Afterhour Mark Spoon, ich meine von Holger nahegelegt, diesen Track auflegte. Irgendjemand hatte das nun folgende Ritual schon Wochen vorher eingeführt. Ich halte heute nicht mehr viel von „Wir-Gefühl“, „Family“-Gequatsche oder Kollektivierung insgesamt. Aber als an Stelle von „hard times must be“ alle wie immer at the top of their lungs dem sichtlich beindruckten großen Frankfurter gemeinsam „Mannheim Posse“ entgegenbrüllten? Hands in the air und alles? Good Golly, war das geil!
Tronikhouse – Up Tempo (KMS, 1992)
Besonders Kevin Saunderson und auch Carl Craig setzten sich ja gerne mit UK-Breakbeat-Kultur asueinander, wohingegen das bei anderen Detroit Techno-Produzenten eher verpönt war. Dabei funktionierte das ja offensichtlich bestens zusammen. Gab es im Milk! generell einen Soundclash zwischen Detroit und UK Breakbeats?
Nein. Man könnte sagen, Sascha kam eher vom Detroit-Techno, Frankfurter Lesart, und Holger war eher englisch sozialisiert. Aber das wäre zu einfach. Es ging uns, wenn ich das für alle sagen darf, um ein bestimmtes ästhetisches und energetisches Level, das unterschiedliche Interpretationen kannte. Auf URs „Revolution For A Change“ fragen sie „live in Utrecht“ „are u down with the underground?“ Rhetorische Frage. Und ehrlich gesagt erscheint mir die Entwicklung der Breakbeats ohne Reese-Bässe kaum vorstellbar. Aber auch ohne Inner City nicht. Es gab auch Links wie Edge Records one, die zunächst einmal ordentlich 4/4telt, bevor ein klassischer Milk-Breakbeat Hit daraus wird.
Love Revolution – I Feel It (Network, 1992)
Italo-geschulte Piano-Hymen mit Rave-Elementen waren wohl sicherlich ein integraler Bestandteil des Milk!. Ist dieser Track ein besonderes Beispiel dafür? Und was machte diese Tracks dort so wichtig?
Auch hier muss ich sagen, dass es weniger der spezifische Titel ist, um den es hier geht. Gat Decors „Passion“, Andronicus’ „Make You Whole“ und von mir aus auch Felix’ „Don’t You Want Me“ könnten hier stehen. Dass hier schon wieder wie bei YBU „Feelings“ im Mittelpunkt stehen, ist entscheidend. Wir haben nichts mehr gefeiert als Emotionalität. Das ging dann mit Energy 52 oder einiges später mit Cleveland City Records weiter und erklärt die aufflammende Liebe vieler in der Posse zu Kid Paul, dem Dubmission-E-Werk und solchen ungebrochenen Spitzentypen wie DJ Clé. Ich kann und will bis zum heutigen Tage nicht davon lassen, dass ein anständiges Rave-Signal noch keiner Party geschadet hat. Ich weiß, in einem Club-Zeitgeist-Umfeld, in dem schon ein buntes T-Shirt als emotionale Entgleisung gilt, eine potenzielle Außenseiterposition.
Total Confusion ging 1998 an den Start. War das eine symptomatische Platte, die den Sound dieser Frühphase definierte?
Tobias Thomas: Eher symptomatisch für eine bestimmte Uhrzeit, für die klassische Peaktime (damals ca. 3-4 Uhr morgens) und für eine allgemein sehr euphorische, ekstatische, affirmative Grundstimmung, die wir alle teilten. Es war die Zeit des Sägezahn-Technos, Nebel und Strobo, und alle drehten durch.
Wolltet ihr zu dieser Zeit ganz entschlossen Indie-Songs mit Clubmusik vereinigen und habt das vorangetrieben, oder war das eine Entwicklung die ihr eher aufgegriffen habt? Meintet ihr auch das mit „Total Confusion“?
Obwohl ich selbst als Teenager eher »Indie« war, haben uns immer eher die Verbindungslinien zwischen Pop und Techno interessiert. Als wir mit unserem damaligen Projekt Forever Sweet zu L’Age D’or/Ladomat kamen, waren Tocotronic quasi unsere Brüder im Geiste auf der Rock-Seite des Labels. Aus dieser ganzen “Lado-Szene”, die auch andere Acts wie Andreas Dorau, Egoexpress, Whirlpool und Die Sterne umfasste, entstanden im Laufe der Zeit viele gegenseitige Befruchtungen und vor allem Remixe, die u.a. deutsche Sprache auf den Technofloor brachte. Von “Girls in Love” bis “Pure Vernunft Darf Niemals Siegen”. Eine schöne Zeit und meiner bescheidenen Meinung nach der beste Remix, den ich (damals mit Kollege Olaf Dettinger zusammen) in meinem Leben zustande gebracht habe. Die Idee “Total Confusion” kreiste um diese Art Grenzüberschreitung, grundsätzlich ging es darum, sich selbst und das Publikum immer wieder von Neuem völlig durcheinander zu bringen.
Jan Jelinek – Tendency (Scape, 2000)
Habt ihr solch feinziselierten Tracks viel Platz eingeräumt? In welchen Phasen der Nacht habt ihr solche Platten gespielt?
Am ersten Tag erschuf Gott das Warm-Up. Eine dem DJ-Handwerk zwingend zugehörige Kunst, der Michael Mayer und ich schon seit unseren ersten Parties Anfang der Neunziger Jahre frönten und die wir nicht müde wurden, von jeder Kanzel herab zu predigen. Auch Aksel aka Superpitcher wurde in diese Kunst eingewiesen und mit der Zeit zum Meisterschüler.
Jede Nacht muss, wie jede andere Geschichte auch, einen Anfang haben. Jan Jelinek war einer der unerreichten Großmeister von solchen Tracks, die gegen 0:30 Uhr etwa den Übergang von Ambient und langsamen Beats hin zu knisternden, flirrenden, vertrackten Stücken markierten, bei denen die Teilchen in der Luft langsam anfingen, sich elektrisch aufzuladen. Jelineks “Loop-finding-jazz-records” ist ein Meilenstein der elektronischen Musik und gehört zur auralen Pflicht eines jeden Nachwuchs-DJs.
Luomo – Tessio (Force Tracks, 2000)
Ich vermute „Tessio“ wurde sehr rasch eine Hymne in eurem Club, oder? Brachte das Stück eure Vorstellung von elektronischen Songs auf den Punkt?
Was Sasu Ripatti aka Vladislav Delay aka Luomo damals mit House gemacht hat, kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Er hat nicht weniger als den gesamten, in Stein gemeißelten Kanon von Bassdrum, Hi-Hat, Snare und Clap im 4/4-Takt in Frage gestellt. Seine ersten Tracks als Luomo waren Monster. Allen voran “Tessio”, eine Hymne, so randvoll mit Emotionen, Energie, Sex und Melancholie, dass einem noch heute schwindelig davon wird.
Static – Headphones (City Centre Offices, 2002)
Wie wichtig war IDM bei Total Confusion? Musste es mit einem guten Song verbunden sein, oder war das kein Kriterium?
Wir haben immer schon leidenschaftlich elektronische Musik gehört, die nicht zum Tanzen gedacht war. Von Underground Resistance und den “The Rings of Saturn” bis zu Aphex Twin, von Air Liquide bis zu The Bionaut. Chillen war vor 20 Jahren noch etwas von sehr intensiver Musik und auch entsprechenden Drogen durchwebter Zustand. Wenn sich solche Sachen dann wieder dem Format “Song” annäherten wie bei “Headphones” wurde es erst recht spannend für uns.
Heiko Voss – I Think About You (DJ Koze Remix) (Kompakt Pop, 2002)
Was machte diesen Track zu einer Total Confusion-Hymne? Die elegischen Streicher-Sounds, gepaart mit diesem bouncigen Groove? War das eine Qualität, die ihr verfolgt habt?
Heiko Voss ist nicht nur ein bis heute schmählich vom Weltgeist übergangenes musikalisches Genie, er war auch wahrscheinlich auf jeder verdammten Party in 16 Jahren Total Confusion zu Gast. Diese Nummer ist ein wundervolles Liebeslied, von Koze, einem anderen, mittlerweile anerkannten Genie, der im Studio 672 damals vieles gelernt und gelehrt hat, mit Samthandschuhen in den Club transportiert. Zu diesem Song haben die Menschen nicht nur getanzt, sie haben sich verliebt. Noch schneller als nur alle 11 Sekunden.
Dntel – The Dream of Evan and Chan (Superpitcher Remix) (Plug Research, 2002)
Ich nehme das war eine der größten Hymnen bei euch, die auch immer noch viel gespielt wird. Was hat das auf eurer Tanzfläche ausgelöst, und ging das von Anfang an los?
Ein kongenialeres musikalisches Zusammenspiel als das hier zwischen Jimmy Tamborello aka Dntel und Superpitcher hat es selten gegeben. Ein tieftrauriger Singer/Songwriter-Popsong geremixt von einem nicht weniger dauermelancholischen DJ und elektronischen Produzenten. Die Atmosphäre von “The Dream of…” beschreibt wie auf einem Gemälde unser damaliges Lebensgefühl. Entzieht sich jeder weiteren Beschreibung. Zuviel Gänsehaut.
Justus Köhncke – 2 After 909 (Kompakt, 2002)
Das kam mir immer vor wie Justus’ Annäherung an die großen Clubhits von Metro Area. Hat das bei euch eine Rolle gespielt, auch speziell dieser Groove?
Justus war und ist eben auch so ein Grenzgänger und die waren uns immer sehr willkommen. Damals hat er gefühlt alle zwei Monate so eine Nummer abgefeuert, immer getreu seinem Motto: “talent borrows, genius steals”. An Metro Area gab es ohnehin kein Vorbeikommen, genauso wie an Daft Punkt vielleicht. Die Nähe zu Disco generell war uns wichtig, es ging bei Total Confusion ja auch um eine gewisse sexuelle Ambivalenz. Und auch wenn diese Liste einen gewissen Eurozentrismus vermuten lässt, gab es auch unzählige Total Confusion-Hymnen von Moodymann, Carl Craig, Theo Parrish und diesen großen Helden. Aber das ist eine andere Geschichte…
Zumindest in meinem Bekanntenkreis war das ein eher umstrittener Track, auch unter LoSoul-Fans. Es gab doch lange eine Abwehrhaltung gegen Clubtracks mit deutschem Gesang. Hat es euch bei der Etablierung dieses Aspektes geholfen, dass ihr als wöchentliche Residents ein loyales Publikum hattet, mit dem man das kontinuierlich aufbauen konnte?
“Umstrittene Tracks” wurden bei uns am Eingang immer direkt durchgewunken. Die standen sozusagen auf der permanenten Gästeliste von Total Confusion. Unser Publikum hat solche Sachen geliebt. Manchmal auf Anhieb, manchmal mussten wir es ihnen aber auch erst zärtlich reinprügeln. Der wöchentliche Rhythmus hat auf jeden Fall für eine soziokulturelle “Togetherness” gesorgt, die es so heute leider nicht mehr gibt. Isso.
Welche Rolle spielten trancige Elemente bei Total Confusion? Hattet ihr das schon immer bewusst integriert, und welchen Stellenwert hatte das?
Ich persönlich habe wenig Sinn für Trance, Michael schon eher. Aber wenn, dann ging es schon um die Elemente von Trance, die einen Laden in Schutt und Asche legen. “Happiness” war natürlich auch so eine Selbstvergewisserungs-Hymne, die sehr unserem damaligen seelischen Zustand entsprang. Es war eine Zeit voller Sehnsucht, aber auch noch eine voller wahrhaftiger Glücksmomente.
War diese Art von euphorischem Club-Pop gängig bei Total Confusion, oder waren das eher Ausreißer? Bei solchen Platten zählt der richtige Moment, oder? Habt ihr euch in diesem Feld auch manchmal verhoben?
Pop stand immer als Dessert auf der Karte. Als Nachspiel und Epilog. Nachdem die Leute zwei, drei Stunden durch den Fleischwolf gedreht wurden und nahe der Epilepsie standen, ging das Strobo aus, das Licht wurde wieder wärmer, der Fuß des DJs ging vom Gas… dann war es Zeit für Pop, Kitsch, alte Klassiker, Flohmarkt-Schätze und dergleichen. Das war Programm und immens wichtig, um dieser kalten Tristesse vorzubeugen, die unweigerlich entsteht, wenn man einfach immer weiter macht, ohne auf die Erschöpfung der Menschen und ihren emotionalen Zustand am frühen Morgen Rücksicht zu nehmen. In Zeiten von Clubs die heutzutage 72 Stunden durchmachen natürlich eine absurde Vorstellung. Aber wir waren eben Old School, Baby.
Auch wenn das neue Jahr nun schon begonnen hat, vielleicht zunächst ein kurzer Blick zurück auf 2014. Würdest du sagen, es war ein gutes Jahr für elektronische Musik? Falls ja, wer war deiner Meinung nach u.a. mit dafür verantwortlich?
2014 war nicht besser oder schlechter als die Jahre zuvor. Es gab genug gute neue Releases, aber kaum neue Trends. Es kam mir so vor, als würden einige vorherige Entwicklungen langsam auslaufen. Lo-Fi House- und Techno etwa. Da hat die Ästhetik vielleicht etwas zu oft durchschnittliche Musik kaschiert. Es gab auch nicht mehr so viele Retro-80er-90er-House-Platten, was sicherlich auch damit zusammenhing, dass jede Menge alte Klassiker oder Raritäten nochmal veröffentlicht wurden. Manche Nachbauten schnitten da im Vergleich schlechter ab, oder man wollte wohl auch lieber Lücken in der Wantslist schließen, als sich mit neuer Musik zu beschäftigen, die wie alte klang. Ich falle aber nicht gerne in diesen früher war alles besser-Sermon. Ich habe in jungen Jahren auch viel alte Musik gehört, ich wollte auch schon immer wissen, wo was herkommt. Aber das wollte ich selber entdecken, und nicht von Älteren gepredigt bekommen, auch wenn man dann später feststellt, dass viele Einwände durchaus berechtigt sind. Was mir letztes Jahr gut gefallen hat, kann man ja bequem bei meinen Hot Wax-Radiosendungen überprüfen, oder meinen Charts. Sicherlich hat nicht jede Platte darin das Rad neu erfunden, aber es waren für mich genug neue Ideen drin, um es unterstützen zu wollen. Generell war es gefühlt eher ein Techno- als ein House-Jahr, aber für mich war es zuviel Techno, der sich nur auf eine jeweilige Atmosphäre konzentriert, und nicht auf Musikalität. Es gab zudem stilübergreifend irritierend viele Alben. Vielleicht war es ein Übergangsjahr, und 2015 passieren wirklich neue Dinge, oder es werden retrospektiv einfach andere alte Stile aufgearbeitet. Da lasse ich mich aber auch gerne überraschen. Ich wünsche mir aber nach wie vor, dass dieser durch künstliche Verknappung ausgelöste Beschaffungsstress für Käufer und Läden zur Ruhe kommt. Aber jetzt habe ich wirklich langsam das Gefühl, dass das ausgereizt ist und der Markt das von allein regelt. Nicht jede überteuerte Platte mit Poster wurde letztes Jahr zum Sammlerobjekt, und da ist noch viel Luft nach unten.
Gibt es einen Abend aus dem vergangenen Jahr, den du als DJ als besonders gelungen/spannend in Erinnerung hast? Wenn ja: Wo und wann war das und was hat den Auftritt ausgezeichnet?
Da gab es einige. Aber am denkwürdigsten war sicherlich der Auftritt von Dreesvn und mir beim New Forms Festival in Vancouver. Das war schon sehr dicht dran an der perfekten Nacht. Wir hatten uns schon die Tage zuvor sehr willkommen gefühlt, und viele interessante Leute kennengelernt, und dementsprechend haben wir uns dann auch bemüht, alles zurückzugeben was wir konnten. Der Live-Auftritt von Dreesen und Sven war einfach wundervoll und sehr beeindruckend, und ich konnte danach wirklich alles spielen was ich wollte, ohne dass es spürbare Einbrüche auf der Tanzfläche gab. Und bei dem Set hätte das schon durchaus passieren können. Es gab dann zum Abschluss des Festivals auch noch eine inoffizielle Party, bei der ich stundenlang im Wechsel mit DJ Sotofett und DJ Fett Burger aufgelegt habe, aber da ist die Aufnahme nichts geworden, was wirklich sehr schade ist. Ich erinnere mich aber auch sehr gerne an eine kleine Griechenland-Tour zurück, den tatsächlich beeindruckenden Sound von Plastic People, no sleep raver bei Washing Machine, feiern gegen alle Widrigkeiten in Ljubljana, Macro mit geballter Kraft im Stattbad, Arme in die Luft in der Panoramabar, und und und. Ach ja, und ich habe bei einer schönen Nacht in Nürnberg die krawallbereiten Besucher des Deutschpunk-Festivals im gleichen Gebäude für klassischen Garage House begeistern können. Ich hatte gar nichts anderes mitgenommen, und es blieb mir gar nichts anderes übrig, aber es ging nicht nur nicht ins Auge, es blieb kein Auge trocken.
Seit einigen Wochen kann man dich als DJ über die Agentur Option Music buchen. Wie kam es dazu, dass du nun bei einer Agentur bist, wo du das doch vorher jahrelang alles selbst geregelt hast?
Nun, ich bin vor vier Jahren Vater geworden, und gleichzeitig nahmen Anfragen für Gigs wie auch der Zeitaufwand meiner diversen anderen Verpflichtungen und Tätigkeiten stetig zu. Nach fast 30 Jahren war ich dann irgendwann so ausgelaugt von der ganzen Logistik, dass ich bereit war, alles in professionellere Hände zu geben. Bei Option Music mag ich sowohl die Art, wie das Booking gehandhabt wird, als auch die anderen Artists, und zwar allesamt. Ich musste die ganzen langjährigen Verbindungen nicht aufgeben, und es kommen neue hinzu. Ich habe mehr Zeit für die Familie, und die Agentur ist auch sehr familiär. Win-Win.
Seit einiger Zeit bist du Teil des Hard Wax-Teams und bist u.a. mit für den Einkauf und somit auch für die berühmten Hard-Wax-Einzeiler verantwortlich. Hast du schonmal das Prädikat “Killer” vergeben und wie leicht oder schwer fallen dir diese Kurzbeschreibungen?
Ja, das Prädikat habe ich schon öfter vergeben, aber eigentlich gehen wir damit bewusst sparsam um. Es wird in der Regel nur für Releases benutzt, die das Zeug dazu haben, irgendwann später vielleicht in der Kategorie Essentials zu landen. Musik, die aus dem Gesamtgeschehen heraussticht. Wir hatten die Webseite ja schon von den Tips bereinigt, nachdem das irgendwann in jeder zweiten Vertriebs- oder sonstigen Promoankündigung zu lesen war, und auch sonst stapeln wir lieber tief als hoch. Wir vertrauen da ganz auf das Urteilsvermögen unserer Kunden, und wollen es nicht beeinflussen. Unser Programm ist sorgfältig vorgefiltert, und somit ist es eigentlich nicht nötig mit Hype-Mechanismen abzulenken, die in so vielen Bereichen des Musikgeschehens sich nur noch gegenseitig entkräften. Als langjähriger Musikjournalist musste ich mich zuerst daran gewöhnen, Musik nicht wertend zu beschreiben, mit nicht mehr Worten als unbedingt notwendig, aber gleichzeitig habe ich den Stil der Beschreibungen wohl auch ein bisschen mitgeprägt. Aber bei Hard Wax steht die Musik im Vordergrund, kurzum.
Viele kennen dich auch als Journalist für Magazine wie De:Bug, Groove oder auch Resident Advisor. Durch deine Familie, den Job bei Hard Wax und das Auflegen bist du zeitlich wahrscheinlich sehr eingespannt – wie wählst du heute aus, über was du schreibst? Sind das nur noch Liebhaber-Themen für dich? Und merkst du eventuell ähnlich wie Gerd Janson, der seit einigen Monaten fast überhaupt nichts mehr schreibt oder Interviews führt. Ermüdungserscheinungen hinsichtlich des Schreibens über Musikthemen?
Ich gebe zu, dass mich mit der Zeit Rezensionen ermüdet haben. Ich denke bei Gerd war das vielleicht auch so. Man hat diesen Wust an Releases, und je länger man sich als Journalist damit befasst, desto schwieriger wird es, dafür frische Worte zu finden. Im Laufe der Zeit wiederholt sich einfach vieles bei der Musik, die man beschreiben soll, und als guter Journalist sollte man schon den Anspruch haben, in Texten Wiederholungen zu vermeiden. Wenn da zu sehr die Routine greift, lesen sich die Platten vielleicht routinierter als sie klingen. Gleichzeitig hat mich aber auch der Mangel an Diskurs frustriert, der heutzutage im Musikjournalismus vorherrscht. Alles ist zu sehr miteinander vernetzt und voneinander abhängig, und im Begriff Soziale Medien sind die Medien nicht ohne Grund enthalten. In allen Bereichen der Musikbranche ist man ob der fallenden Ertragsmöglichkeiten dünnhäutig geworden, gleichzeitig sind die Medien mehr als zuvor auf den Anzeigenmarkt angewiesen, um überhaupt überleben zu können. Und das ist keine gute Grundlage für eine Kritik, von der neue Impulse ausgehen können. Ich habe da auch einige heftige virtuelle Stürme hinter mir, für sorgfältig recherchierte, sachliche und objektive Artikel, die unter anderen Umständen vielleicht eine Debatte angestoßen hätten, von der alle was haben. Mit dieser Art mit Meinungen umzugehen hatte ich schon Probleme, als ich nur DJ, Journalist und Labelbetreiber war. Seitdem ich vor Jahren Teil von Hard Wax geworden bin, ist es noch wesentlich schwieriger geworden. Die Objektivität, die vorher von anderer Seite zuweilen in Frage gestellt wurde, ist jetzt nicht einmal mehr das Haupt-Kriterium. Ich sehe mich in der Funktion als Einkäufer zu einem hohen Maß an Neutralität verpflichtet, was diverse Themen für mich als Journalist von vornherein unmöglich macht. Nicht in erster Linie als Selbstschutz, sondern vor allem um den Laden zu schützen, und das, was ich dort tue. Es ist aber nicht so, dass ich nicht mehr schreiben kann was ich will, und dann lieber gar nichts mehr schreibe. Ich schreibe nur eher über Themen, mit geringerem Potential, negative Auswirkungen auf meine Tätigkeiten zu haben. Und das sind dann schon eher Liebhaber-Themen, Interviews mit Legenden, zeitspezifische bzw. historische Aspekte und schlichtweg Musik, über die ich von einer Fan-Perspektive aus schreiben kann. Es kommt aber auch noch erschwerend hinzu, dass beim gegenwärtigen Musikjournalismus Zeitaufwand und Honorarerträge nur noch in einer akzeptablen Relation stehen, wenn man wirklich viel schreibt. Und dafür fehlt mir einfach die Zeit. Demzufolge schreibe ich weniger, als ich eigentlich gerne würde. Aber es ist mir nach wie vor wichtig, und ich würde es nicht komplett aufgeben wollen.
Seit 2007 betreibst du gemeinsam mit Stefan Goldmann das Label Macro. Was wird uns da in diesem Jahr bzw. den kommenden Monaten erwarten?
Traditionell haben wir zum Ende des vorangegangen Jahres noch nicht allzu viele Pläne für das nächste Jahr. Bei Macro regiert der Freiraum, in jederlei Hinsicht. Stefan ist für einige Zeit mit sehr interessanten Projekten ausgelastet, hat aber auch neue Geräte ausfindig gemacht und mir gegenüber bereits angekündigt, sich dieses Jahr stilistisch umfassend häuten zu können. Und so wie ich ihn kenne, macht er das dann auch. Es wird wohl einen Soundclash unserer beiden Live-Institutionen KiNK und Elektro Guzzi geben, ich rechne in freudiger Erwartung mit neuem Material älter und neuerer Macro-Künstler, und wenn es zu uns passt, sind uns natürlich auch ganz neue Produzenten willkommen. Der Rest wird sich vermutlich wie gehabt aus spontanen Eingebungen ergeben, die wir dann gewohnt akribisch in die Tat umsetzen. Im Prinzip gehen wir auch schon seit 2007 davon aus, dass wir mal problemlos eine Auszeit nehmen könnten, aber irgendwie kam bis jetzt immer eine ganze Menge dazwischen.
Deine Hot Wax Shows auf BCR sind sowohl in ihrer Länge als auch stilistisch teils sehr unterschiedlich und spiegeln damit eben dich als vielseitigen Host und DJ wider. Welchen Themen und Genres willst du dich unbedingt noch in einer deiner Sendungen widmen, bist aber bisher noch nicht dazu gekommen?
Ich habe eine langjährig gewachsene, stilistisch sehr vielfältige Plattensammlung. Gerade wenn man eine regelmäßige Radiosendung macht, sollte man das auch nutzen. Die angesprochene Vielseitigkeit zeichnet mich wohl als DJ aus, aber ich will das auch nicht überstrapazieren. Der Großteil der Hot Wax-Sendungen besteht schon aus Platten, die ich aus dem Laden mitnehme. Ich lasse dann ein paar Wochen verstreichen und mache eine Art Kassensturz, und wähle dann die für mich interessantesten Releases aus, teils im Club erprobt, teils auch nur zuhause. Mir geht es bei den Sendungen oder auch anderen Podcasts nicht darum, meine Aktivitäten im Club zu simulieren, auch wenn ich Clubgigs gerne mal thematisch angehe. Wenn ich irgendwo auflege, fände ich es aber weder für mich noch für andere reizvoll, Sequenzen aus irgendwelchen meiner Sendungen zu wiederholen. Radio hat mich lange Jahre begleitet, und das Format bedeutet mir sehr viel. Was da aber musikalischen Spezial-Themen im Verlauf des Jahres geschehen wird, möchte ich noch nicht verraten, ich mag Überraschungen. Ende Januar wird es aber noch mal eine Sendung mit aktuelleren Platten geben, und dann möchte ich gerne mit einer irregulären Serie anfangen, die sich mit Edits befasst, die in den 80ern auf Remix Services erschienen sind, etwa Disconet, Hot Tracks, Razormaid und anderen obskuren Labels. Ich sammle solche Platten schon seit etlichen Jahren, und finde es sehr faszinierend, was damals mit Tape und Schere mit bekannten Clubhits angestellt wurde. Und es wird einen sehr persönlichen Podcast für Modyfier geben. Ansonsten habe ich eigentlich immer Ideen, wenn ich in den Regalen umhersuche. Und ich habe keinerlei Hemmungen, die dann auch in die Tat umzusetzen. Ich bin sehr dankbar, dass das so viele Leute hören wollen, und hoffe, dass das noch lange so bleibt.
Vielen Dank für deinen Mix! Per Facebook-PN hast du ihn ja schon als “Deutschland in deep, die klassische Variante” angekündigt und daraus wurden dann gleich über drei Stunden. Wie kamst du auf die Idee dazu, wie hast du deine Auswahl getroffen und wie und wo den Mix dann letztendlich aufgenommen?
Das sind meine persönlichen Favoriten zum Thema Deepness in Deutschland, vornehmlich House. Platten, die ich über Jahre regelmäßig gespielt habe, und auch auch immer noch spiele. Von einigen Produzenten hätte man natürlich auch mehrere Tracks nehmen können, aber es ging mir eher um einen breiten Überblick. Es hat eine Weile gedauert bis sich deutsche Produktionen von Ende der 80er an von den US-Vorbildern emanzipiert haben, aber dann ist wirklich viel Eigenständiges passiert, sei es in den Großstädten, oder in der Provinz. Dass es sich hierbei überhaupt um eine Auswahl nationaler Veröffentlichungen handelt, ist vollkommen unpatriotisch. Ich vergleiche einfach gern. Die Charakterisierung der einzelnen lokalen Szenen zu den Platten muss aber an anderer Stelle stattfinden, da gehören mehr interessante Zusammenhänge hinzu, als ich hier anreißen kann. Viele der vertretenen Künstler sind auch heute noch aktiv, aber dieser Mix soll beleuchten, wie das in früheren Jahren klang, und wie gut das gealtert ist, bis hin zu etwas aktuelleren Releases. Für mich sind das alles Klassiker, und wichtige Platten. Die Abfolge der Tracks hat sich beim nächtlichen Raussuchen ergeben, und dann ist der Mix in einem Rutsch am verregneten Tag darauf entstanden, mit zwei MKs und einem erstaunlich unverwüstlichen Ecler-SmacFirst-Mixer. Das Setup benutze ich seit 1995, für alles.
Wo kann man dich demnächst mal wieder auflegen hören?
Ich bin gerade aus dem wohlverdienten Urlaub zurück, und meine Bookerin auch. Wir müssen uns erstmal sortieren. Aber wir sind dran. Have headphones, will travel.
Als jemand der schon seit vielen Jahren jeden Tag aufs Neue mit Artworks für Vinyl-Veröffentlichungen umgeben ist, hat sich die Herangehensweise an das Thema von Label-Seite geändert, seit die Produktionsbudgets schrumpfen?
Ich habe in puncto Vinylgestaltung zwei gegenläufige Trends beobachtet, um mit der oft beschworenen Krise umzugehen; einerseits der Stamp/DIY-Ansatz, der u.a. von Veröffentlichungen, die mit Hard Wax assoziiert werden (z.B. MMM, WAX oder MDR), losgetreten wurde und andererseits, besonders in den letzten ein, zwei Jahren, auch eine Tendenz zum aufwändig und professionell hergestellten Vinyl-Release. Dabei denke ich besonders an einige Labels aus UK. Daneben gibt es auch Mischformen, wie ein clever gestaltetes Universalcover, das mit Hilfe von Stempeln oder Aufklebern an das aktuelle Release angepasst wird, oder auch mit Siebdruck oder anderen Handarbeitstechniken hergestellte Fast-Unikate. Im Grunde steht immer die Frage im Raum: wie bei kleinen Absatzzahlen trotzdem zumindest auf eine schwarze Null kommen? Produktionskosten gering halten oder teurer zu verkaufende Sammlerobjekte schaffen?
Ist Artwork für ein neu gegründetes Vinyl-Label immer noch ein Aspekt, in den investiert werden sollte? Was kann man mit einem gut gestalteten Release heute noch erreichen?
Ja, auf jeden Fall sollten wenn nicht mal unbedingt Geld, doch zumindest Gedanken investiert werden. Wie bei jedem Produkt, das man an den Mann oder die Frau bringen möchte, ist die Verpackung natürlich wichtig. Ich zum Beispiel orientiere mich sehr stark an Cover-Gestaltung, wenn ich Platten suche. Nach einer Weile entwickeln sich Heuristiken, mithilfe derer man Musik finden kann, die einem gefällt. Daher kann sich ein Label mithilfe von Artwork und Design in eine bestimmte Traditionslinie oder Kultur einordnen, um wiederum die potentiellen Fans gezielt anzusprechen. Persönlich empfinde ich es so, dass ein gewisser Aufwand auch Selbstvertrauen und Zuversicht in die Musik ausdrückt. Wenn man gerade mal die Minimalanforderungen für eine Vinylveröffentlichung erfüllt, dann frage ich mich als Plattenkäufer auch, wie viel Herzblut in der Musikproduktion steckt. Daran, dass man die Musik zu allererst mal visuell wahrnimmt, haben Downloads und Internet-Plattenversender nichts geändert: man sieht immer erst das Cover-Thumbnail, bevor man auf den Anhör-Button klickt. Im Plattenladen ist es ja noch offensichtlicher. Du weißt ja selbst, was es bedeutet, wenn eine Platte im Hard Wax an der Wand hinter dem Tresen hängt und durch ein herausragendes Artwork auffällt: natürlich wird nach dieser häufiger gefragt.
Braucht man heutzutage noch einen Grafikdesigner, oder wird das, wie auch andere Aspekte der Plattenproduktion, eher in die eigene Hand genommen um Kosten zu sparen? Wie wichtig ist dabei die Professionalität? Wie reagiert das Gewerbe auf DIY-Typo und Bildbearbeitung aus dem Internet? Wie stellst du dich als Grafikdesigner auf veränderte Ansprüche ein?
Ich bin ja auch nur ein Autodidakt und habe nie Grafikdesign studiert. Grafikdesigner sind gerade in Berlin ja ziemlich einfach zu finden. Es muss nicht immer eine teure Agentur sein, die einem das Cover gestaltet, damit es ein gutes Release wird. Wichtiger ist, dass der Grafiker die visuelle Einordnung oder wie man das auch immer beschreiben möchte, bewerkstelligt. Es sollte irgendwie passen. Das kann durch einen befreundeten Grafiker passieren oder durch eine professionelle Agentur. Bei Agenturen oder professionellen Grafikern habe ich aber manchmal das Gefühl, dass diese eigene Trends haben, denen sie nachgehen. Es gibt Monate da kommen zwei, drei Platten auf unterschiedlichen Labels heraus, die sehr ähnliche Cover haben oder zumindest ähnliche Gestaltungsprinzipien verfolgen. Ich denke dann immer, dass die bestimmt alle das gleiche Gestalter-Magazin abonniert haben.
Sollten Labels noch auf eine Corporate Identity setzen?
Wenn man als Label wiedererkennbar sein möchte, dann ja. Es gibt aber sehr unterschiedliche Möglichkeiten. Die meisten Labels in unserer Szene sind ja keine Labels im Ursprungssinn, sondern die Veröffentlichungsplattform eines Künstlers oder Künstlerkollektivs. Zur Label-Arbeit gehört ja traditionellerweise A&R. Das fällt weg, wenn ein Künstler selbst sein Label gründet. Wenn ein Label für Qualität steht, dann ist es natürlich auch gut, wenn es erkannt wird. Aber das muss man im Einzelfall sehen. Es gibt unendliche Möglichkeiten, vom Standardcover bis zum kleinen Logo irgendwo in einer Ecke.
Gestempelte White Labels oder Platten ohne Cover sind ja eine Strategie, die gerne mit dem Hard Wax-Umfeld assoziiert wird und auch heute noch vielfach angewandt wird. Wie siehst du heute dabei die Gewichtung bzw. Wechselbeziehungen von ästhetischer Überzeugung, ökonomischen Zwängen und Abgrenzungsüberlegungen? Hat sich die Wirkung evtl. schon verbraucht?
Ganz am Anfang war das überhaupt keine Strategie. Wenn ich mich richtig erinnere, waren Erik und Fiedel mit MMM die ersten, die es so gemacht haben. Und damals – es war immerhin 1996 – war es tatsächlich eine rein ökonomische Überlegung. Nach der was-weiß-ich-wievielten Auflage hätten sie sich auch sicher gedruckte Labels spendieren können, aber dann haben die beiden es einfach weiter so gemacht wie bisher. Die Stempel-Releases jetzt stehen ja auch für ein gewisse Herangehensweise: es gibt keine Vorab-Promos, keine Info-Sheets mit halb erzwungenen Statements von DJs etc.: die Platten kommen aus dem Presswerk, werden dann gestempelt und stehen dann auf der Hard Wax-Webseite – “quick white label action” wie es unser Chef-Einkäufer Torsten so schön genannt hat. Das Design war also direktes Ergebnis der Produktionsweise. Andere haben das dann als Erfolgsrezept angesehen und aufgegriffen, oft jedoch nur den Aspekt des Stempel-Designs beibehalten. Wenn es das ganze Promo-Tamtam gibt, dann ist das Lo-fi-Erscheinungsbild ein bisschen albern. Ich denke auch, dass es jetzt zur Masche verkommen ist und dass wir wohl nicht mehr viele neue Stamp-Release-Labels – zumindest aus dem Hard Wax-Umfeld – sehen werden.
Was hältst du von alternativer Gestaltung, z.B. Inserts, Stempel, Sticker, Lochung etc. Ist das eine kreative Begrenzung oder eine Notlösung, oder ist da noch viel künstlerische Luft? Kann man auch mit geringem Aufwand ein Artwork umsetzen, das vom Material her aufwändiger ist? Sollte man das sogar?
Ich finde alles gut, wenn es in sich irgendwie Sinn ergibt. Dieses auf Biegen und Brechen Unikat- und Sammlerobjekt-sein-wollen finde ich auch komisch. Da ist für meinen Geschmack eine Schieflage in die andere Richtung erreicht: die eigentliche Musik tritt vor den limitierten, durchnummerierten, farbigen oder sonst wie auratisch aufgeladenen Vinyl-Sammlerstücken in den Hintergrund. Das wirkt oft so, als wäre die Platte direkt für den Discogs-Gebrauchtmarkt hergestellt worden. Prinzipiell sollte man alles ausreizen dürfen, was die Fertigungspalette hergibt, solange es als Gesamtprodukt funktioniert und nicht zu sehr gewollt wirkt. Ich habe zum Beispiel gerade sehr viel Freude beim Entwerfen von mit Lyrics bedruckten Inner-Sleeves gehabt. Das ist so was Klassisches, was einen Mehrwert für den Käufer der Platte darstellt.
Ist das Vollcover trotz Krise wieder auf dem Vormarsch?
Ich denke ja. Nach dem Trend der steigenden Release-Zahlen, um die schrumpfenden Verkaufszahlen pro Release zu kompensieren (was eine Milchmädchenrechnung ist), wird es eine Tendenz zu mehr Qualitätskontrolle und Begrenzung geben. Die klassischen Label-Tugenden wie gutes A&R, Künstleraufbau etc. werden in kleineren Rahmen wieder an Bedeutung gewinnen und die Musik wieder langlebiger werden. Damit kann auch wieder mehr in einzelne Releases investiert werden. Das ist aber nur zur Hälfte meine Einschätzung und zur anderen meine Hoffnung.
Es wird heute auch bei Vollcovern meistens nicht mehr viel in Material und Druck investiert. Wird das so bleiben, und kann man das umgehen und dennoch “aufwändige” Effekte erzielen?
Für einen kreativen Kopf stellen Limitierungen ja auch immer Herausforderungen dar. Ich mache mir da keine Sorgen. Die Technologien haben sich immer verändert und die Leute mussten zu jeder Zeit alles herausholen. Selbst wie Kartoffeldruck wirkende Reggae 7″s sehen ja teilweise genial aus. Und man kann sich immer nach neuen (oder alten) Techniken umschauen, wenn einem der Laser-Print von Online-Druckereien nicht gefällt. Honest Jon’s hat z.B. wundervolle Platten mit Prägedruck und Buchbinde-Rücken herausgebracht und ist sowieso ein gutes Beispiel für hervorragendes Plattendesign. Wie oben schon angedeutet, gibt es einen Zusammenhang von der Qualität der Musik und dem Design. Wenn eine Platte eine Halbwertzeit von ein paar Wochen hat, dann investiert man natürlich auch nicht unendliche Summen in das Erscheinungsbild.
Wird das Artwork immer ein integraler Bestandteil von Label-Arbeit sein, wenn man physikalisch veröffentlicht?
Auf jeden Fall, denn das ist ja gerade der Unterschied zum nur-digital-veröffentlichen, dass man etwas mit vielen Sinnen Erfahrbares produziert. Das merkt man auch an den ganzen eben erwähnten Techniken, die in letzter Zeit öfters benutzt werden, wie z.B. Prägungen. Das kann man als 600×600 Pixel-Bild natürlich nicht wiedergeben. Der Drang, etwas zu erschaffen, was sich von dem Vorangegangenen unterscheidet, erstreckt sich auch auf das Cover-Design und sollte es tun. Dafür ist allerdings die Grundvoraussetzung, dass man sich tatsächlich unterscheiden möchte.
Als ihr eure ersten Vinyl-Veröffentlichungen auf den Markt gebracht habt, gingen die Umsätze schon zurück. War das Artwork der Platten schon eine Reaktion auf veränderte Voraussetzungen?
Ehrlich gesagt haben wir uns über den Markt kaum Gedanken gemacht. Wir wollten Schallplatten machen, weil es das beste Medium für Musik ist. Das Design für das erste Release kam aus frühen Entwürfen, als einer von uns noch Flyer gestaltet hat, und war eigentlich auch kein großes Thema für uns. Viele Gedanken haben wir uns darum am Anfang nicht gemacht. Eigentlich wollten wir auch einfach nur wissen wie es ist, eine Schallplatte gemacht zu haben und wir waren ziemlich froh, dass das geklappt hat.
War das Artwork für euch ein integraler Bestandteil der Release-Produktion?
Das Artwork ist für uns auf jeden Fall ein integraler Bestandteil am Spaß, eine Platte zu machen. Dafür nehmen wir auch Extra-Arbeit in Kauf. Wir scheuen uns auch nicht davor, Nächte lang zu stempeln oder Transparentpapier zu schneiden. Umso mehr freuen wir uns dann über das fertige Produkt.
Welche Überlegungen führten zu dem visuellen Endergebnis? Wie korrespondierte der Inhalt mit der Gestaltung?
Bisher lief es so, dass wir unsere Ideen diskutiert und uns irgendwann für eine grafische Umsetzung entschieden haben. Meistens hörten wir uns die Musik für die Releases an, bis eine Idee für das Artwork kam. Im Laufe der Produktion hat sich jedoch meistens alles anders entwickelt, weil unsere Idee entweder doch nicht so einfach umsetzbar wie erwartet war, oder weil kurz vor Ende noch eine bessere Idee kam. Bei der QNS-Reihe fanden wir, dass zu der Musik ein einfaches Design passt. Daher haben wir uns für Stempel entschieden. Weil wir nicht bloß einen Logo-Stempel draufmachen wollten, haben wir uns dafür entschieden, eine Serie zu machen um eine kleine Mini-Geschichte erzählen zu können. Die Geschichte sollte das Konzept “Quantity not Sufficient” thematisieren. Weil wir die Musik schließlich mit Science Fiction-Filmen assoziiert haben, kamen wir zu den Stempelmotiven, die eine Freundin für uns entworfen hat. Bei der Solaris-Reihe war der Prozess anders. Wir sind große Fans von Tarkowskis Solaris-Film und hatten uns früh dafür entschieden, eine Serie zu machen, die den Film thematisiert. Als das Konzept soweit stand, haben wir nach Musik Ausschau gehalten. Für das Artwork kam uns die Idee, für jede Platte der Solaris-Reihe unterschiedliche Motive auszuwählen. Das heißt unterschiedliche Designs für knapp 900 Platten. Wir wollten es aber unbedingt ausprobieren. Die Idee kam uns vor einiger Zeit, als wir die QNS-Reihe zu Hard Wax brachten, um uns damit vorzustellen. Wir hatten alle sechs QNS-Platten mit fertigem Artwork mitgebracht und dort dachte man, es wäre nur die erste QNS mit unterschiedlichen Stempelmotiven. Man hielt uns für verrückt. Wir fanden das allerdings so gut, dass wir den Gedanken bei der Solaris-Reihe aufgriffen. Anstelle der Stempel haben wir dort allerdings auf Transparentfolie zurückgegriffen und jede mit einem eigenen Bildausschnitt aus dem Solaris-Film versehen.
Was hat euch dazu bewogen, die Vorgehensweise von QNS gegenüber der Solaris-Serie zu ändern?
Bei QNS haben wir eine Idee ausprobiert, bei Solaris eine andere. Das ist eigentlich das ganze Konzept, dass dahintersteht. Wir wollten uns mit der einen Reihe nicht bewusst von der anderen Reihe abgrenzen. Dahinter stecken eher die Faszination und das Ausprobieren von Möglichkeiten. Zum einen mögen wir den Gedanken, uns immer wieder neu zu erfinden. Das Serienkonzept ermöglicht es, dass wir uns nicht für alle zukünftigen Releases festlegen müssen. Wir können dadurch Musikstile und Designs ausprobieren. Außerdem gefällt uns der Gedanke, Arbeiten abschließen zu können. Zum anderen ermöglichen es uns Schallplattenreihen, “out of the box” zu denken. Eine Reihe wie QNS oder Solaris gibt den einzelnen Musikstücken daraus eine über sie hinausgehende Bedeutung.
Gibt es auch Formen der Gestaltung, die ihr heutzutage ablehnen würdet, z. B. Vollcover, bestimmte Materialien etc.?
Nein.
Wie wichtig ist Artwork für die jetzige Label-Landschaft und Musikwirtschaft? Ist das eher eine traditionelle Beziehung, oder geht das darüber hinaus?
Bei einigen Labels besteht das Artwork gerade darin, kein Artwork zu haben. Wir würden sogar behaupten, Vinyl kommt auch ohne Artwork aus, weil Vinyl als solches schon Artwork ist. Es gibt zwar viele Acts, beispielsweise aus dem Gitarren-Bereich, die aufwendige Cover und Musikvideos haben. Dort hat man aber auch das Gefühl, dass da ein richtiges Management dahintersteckt und dass dort viele unpersönliche Produktionsschritte ablaufen, bevor das Musikstück zum Kunden kommt. Bei elektronischer Musik ist das oft anders. Da ist ein Management aufgrund der relativ einfachen Musikproduktion nicht erforderlich und traditionsgemäß spielt Selbstdarstellung keine allzu große Rolle. Entscheidend ist vielmehr, ob die Musik gut ist. Das beste aufwendigste Artwork hilft einem nicht unbedingt dabei, einen Vertrieb oder Käufer zu finden.
Wie sollte ein neu gegründetes Vinyl-Label mit dem Thema Artwork umgehen? Lohnt es sich, darin zu investieren? Gehört das unabdingbar dazu?
Für uns ist Artwork ein wichtiger Grund, um zusätzlichen Spaß an der Release-Produktion zu haben, weniger ein Kaufgrund.
Seht ihr Trends in der Gestaltung, die sich aus den momentanen Gegebenheiten ableiten lassen?
Naja, es werden kleinere Stückzahlen gepresst. Vielerorts regen sich Leute auf, dass sie von einem Release keine Kopie abbekommen haben, oder sie regen sich darüber auf, dass es kein digitales Release davon gibt. Tatsächlich sind die kleinen Stückzahlen eine Anpassung an die Gegebenheiten und eine Reaktion auf die Entwertung der Musik durch beliebige Reproduzierbarkeit im Internet. Die Knappheit erzeugt bei Schallplatten eine Wertsteigerung. Auf Discogs kann man beobachten, zu welch verrückten Ergebnissen das leider führt. Die teuren Platten sind jedoch nicht immer die hübschesten. Was mit den kleineren Stückzahlen einhergeht, sind die wachsenden Möglichkeiten bei der Gestaltung des Artworks. Es ist plötzlich möglich, jede Kopie eines Releases einzeln zu designen. So persönlich war die Musikindustrie noch nie. Es ist auch relativ leicht, derzeit ein schönes Produkt bestehend aus Musik und Design herzustellen. Ein aufwendiges Stempeldesign etwa wäre bei Stückzahlen von über 1000 Stück kaum denkbar.
Wie wichtig ist die Gestaltung noch als identitätsstiftendes Element eines Labels?
Uns ist unsere eigene Label-Identität gar nicht in dem Maße bewusst, als das wir wüssten, welchen Einfluss unser Artwork darauf hätte. Wir sind uns zwar über die Wichtigkeit eines Labels für die Veröffentlichung von Musik bewusst, unser Ziel ist jedoch schon erreicht, wenn wir durch unser Design niemanden vom Kauf abhalten. Generelle Aussagen für andere Labels sind schwer zu treffen, weil es darauf ankommt, welche Vorstellung die Labels von ihrer Musik und ihrer Selbstdarstellung haben. Die meisten Labels definieren sich doch eher über ihren Sound als über das Design. Das Design hilft dann bei dem Wiedererkennungswert oder als ein Medium für ein ästhetisches Zugehörigkeitsgefühl. Das kann auch ein einfaches, nicht aufwendiges DIY-Artwork leisten.
Sollte man denn einen professionellen Grafikdesigner beschäftigen, oder kann man auch mit einer DIY-Strategie erfolgreich sein?
Das hängt davon ab, was man unter Erfolg versteht. Heutzutage ist man ja schon erfolgreich, wenn man die Platten die man presst auch verkaufen kann. Dafür ist DIY sogar eher geeignet. Der DIY-Markt ist relativ groß und ein handgefertigtes Artwork wird von vielen Seiten gewürdigt. Will man dagegen eher den Rockstar-Erfolg, dann ist wohl ein identitätsstiftendes Design gefragt, das einen medialen Mehrwert erzeugt. Dafür ist ein professioneller Designer besser geeignet, wenn es darum geht eine ganze Kampagne mit Video usw. zu machen. Der Profi sorgt allerdings auch nicht dafür, dass das Artwork immer gut aussieht. Es gibt auch jede Menge hässliches aufwendiges Artwork (siehe UK). Wir dagegen haben Spaß an DIY und beschäftigen keinen professionellen Designer. Das heißt nicht, dass unser Design nicht von Leuten käme, die auch als professionelle Designer arbeiten könnten. Wir beauftragen jedoch keine Agentur damit, sondern Freunde, die verstehen was wir wollen und mit denen wir gerne Zeit verbringen und mit denen wir gerne planen.
In welcher Art und Weise möchtet ihr Design-Möglichkeiten künftig nutzen?
Am besten wäre es, wenn wir uns immer wieder selbst überraschen.
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