Man kann die Dekadenz vom Weltraum aus sehen – Eine Kulturgeschichte von Italo House

Posted: July 2nd, 2021 | Author: | Filed under: Texte Deutsch | Tags: , , , | No Comments »

In Italien ist Clubmusik schon seit der klassischen Ära von Disco in den 1970ern integraler Bestandteil von la dolce vita. Seit damals wird mit offenen Armen empfangen, was von den nordamerikanischen Metropolen herüberschwappt. In Italien wird der musikalische Input mit elastischem Verhältnis zu Urheberrechten in etwas umgedeutet, das dem Lebensgefühl an Adria und Mittelmeer eher entspricht. Kopieren lohnt sich künstlerisch und vor allem kommerziell. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert: Der lockere Umgang der Italiener mit Originalmaterial ist kreativ und zugleich berüchtigt, unzählige halbseidene Coverversionen und Bootlegs zeugen davon.

Man muss aber ebenso konstatieren, dass stets etwas Originäres dabei entstanden ist. Italo-Disco-Musik der achtziger Jahre ist das Kardinalbeispiel hierfür. Was zunächst in Resteuropa noch als billige Plastikversion von Disco verschrien war und als Musik, zu der eher die Jugendlichen aus einfachen Verhältnissen in der lokalen Diskothek den Disco Fox tanzten, mutierte schnell zu einem internationalen Einfluss mit erstaunlicher Langlebigkeit und Hipness-Faktor.

Ein Grund dafür ist sicherlich der unbedarfte Charme der italienischen Musik, ein anderer ist aber auch die Innovationsfreude ihrer Produzent:innen. So verwundert es nicht, dass die Pioniertage von House Music ab Mitte der 1980er in und Detroit gespickt waren mit Importplatten aus Italien, die in den Playlists wichtiger US-Radiosender und den entsprechenden Clubs tiefe Spuren hinterlassen haben. Es gelangte quasi etwas in die USA zurück, das sich sehr von dem unterschied, was man zuvor nach Europa exportiert hatte.

Und mit House entlässt man dann abermals eine gewichtige neue Komponente in das Nachtleben der Alten Welt, und wieder wurde sie gerade in Italien besonders schnell begeistert verarbeitet. Die Genese von Italo House ab Ende der 1980er folgt dabei den bewährten Mustern der Jahre zuvor, was nicht weiter verwunderlich ist, denn viele Protagonisten, wie etwa Ricky Montanari und Claudio Rispoli alias Moz-Art waren als DJs und Produzenten schon seit der Disco-Ära aktiv und gingen bei der Adaption von House ähnlich zweckorientiert vor.

Äußerst hilfreich war, dass die italienische Musikindustrie über Jahre Import- und Exportstrukturen aufgebaut hatte, mit der man in Sachen der schnelllebigen Clubmusik stets vorneweg war. Der erste italienische House-Track, der über die Landesgrenzen hinaus Tanzflächen eroberte, ist „Ride on Time“ von Black Box. Seine Musik funktioniert vor allem so gut, weil sie dreist Bestandteile zusammenklaubt, die sich schon vorher bestens bewährt haben. Man kopierte die einprägsamen Pia­no­ak­korde und synthetischen Grooves der frühen US-House-Produktionen wie etwa von Marshall Jeffersons „Jungle Wonz“ und stellte ein Model ans Mikrofon, welches in Videoclips und Playbackauftritten zu der ungefragt übernommenen Originalstimme von Loleatta Holloways Disco-Klassiker „Love Sensation“ (1980) mimt. Wie man damit durchkommen kann, obwohl der Song zu einem beträchtlichen Hit wurde? Ganz einfach, „Ride on Time“ klingt derart umwerfend, dass man erst viel später Fragen wegen Plagiatsvorwürfen stellte.

Das Erfolgsrezept ist so simpel wie effizient. Instinktsicher werden die nachhaltigen Elemente des Originals isoliert, die auf der Tanzfläche Ekstase auslösen, produziert sie ekstatischer, aber auch gefälliger und lässt ordentlich mediterrane Sonnenwärme rein. Dann werden etliche Veröffentlichungen nachgeschoben, die mehr oder weniger nach dem gleichen Muster funktionieren, und schon bald hat man ein eigenes Genre erschaffen, dass sich bis heute ungebremst in zahllosen Variationen zwischen Eurodance, UK Breakbeats und balearischen Großraum-Clubhits fortpflanzt.

Italienische Clubmusik muss im großen Rahmen funktionieren, was durchaus ein wichtiges Kriterium ist, denn italienische Clubs sind in der Regel groß. Sehr groß. Sie zeugen von einer langen, stolzen Tradition der Dekadenz und Maßlosigkeit, des ganz breiten Pinselstrichs inklusive Stuck-Säulen auf der Tanzfläche, Außenpools mit Panoramablick und absurden VIP-Bereichen. Man kann diese Etablissements vom Weltall aus erkennen, und den Autokorso dorthin auch. In solchen Clubs muss der DJ klotzen, und nicht kleckern. Nichts und niemand darf das pompöse Gesamtbild mit kleinen Gesten und kleinen Ansprüchen und kleiner Kunst verunreinigen. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Die für Italo House maßgeblichen und größtenteils an der italienischen Riviera ansässigen Clubs wie „Ethos Mama“, „Diabolik’a“, „Vae Victis“, „Cocorico“ und „Peter Pan“ haben eine Kapazität im großzügig drei- bis vierstelligen Bereich: Podest-Tänzer:innen, MCs und DJs, die sich keine Fehler erlauben können. Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass der Sound in der Blütezeit von Italo House ab 1990 nicht so klingt, als müsste er erheblichem kommerziellen Druck standhalten.

An Italo House kann man sicherlich die wichtigen Evolutionsstufen der internationalen House Music ablesen, und die erste Zündstufe Ende der 1980er Jahre ist eine Sturm-und-Drang-Phase, in der bedingungslose Euphorie und Pianos regierten. Der wirklich kreative Schwung setzt aber um 1990 ein, als in den USA der House-Sound deeper wurde. Die italienischen DJs und Produzenten mussten ein gehöriges Erweckungserlebnis gehabt haben, als etwa Larry Heard und Marshall Jefferson versonnenere Tracks produzierten oder etwas später in New York auf dem wichtigen Label-Triumvirat Strictly Rhythm, Nu und Nervous Tracks von Wayne Gardiner, Gijo Rosario, Ronald & Rheji Burrell und Roger Sanchez veröffentlicht wurden. Diese Musik postuliert eine deutliche Abkehr von funktionalen Tanzflächen-Imperativen. Italo House ist introspektiv, mit sanft pulsierenden Grooves und vor allem mit bittersüß-emotionalen Flächen ausgestattet und wird alsbald als Ambient und Mellow House in den Kanon aufgenommen. Bereits 1989 schickten Angelo Albanese und Massimino Lippoli den sich sehr großzügig bei Manuel Göttschings „E2-E4“ bedienenden Clubhit „Sueño Latino“ auf den Weg.

Eine Blaupause für italienische House-Produktionen, mit denen sich jeder Club in eine weltumarmende Utopie von Glückseligkeit mit Meerblick verwandeln lässt und jeder urbane Alltagskampf inmitten weniger azurblauer Umgebungen augenblicklich in Vergessenheit gerät. In den Studios arbeiten nun beispielsweise Carlo Troya alias Don Carlos, Claudio Coccoluto und Enrico Mantini an Musik, die sich anhört wie ein Sprung ins glitzernde Wasser eines sonnendurchfluteten Swimmingpools. Und wenn man am anderen Ende wieder auftaucht, sieht man schöne Menschen in luftiger Bekleidung und schweißtreibenden Bewegungen, und da kommt auch schon der nächste Drink. Die meisten Italo-Produzenten sind erfahrene DJs, sie wissen genau, was sie selbst wollen, und vor allem, was ihr Publikum will. Und dafür ist jedes Mittel recht. Auf Labels wie Irma, Palmares, DFC, UMM und Calypso zelebrieren sie eine hemmungslose Opulenz, die bis knapp vor die Kitschgrenze stößt, die Pianos sind immer noch prominent im Mix, bloß etwas weicher gestimmt, gesampelte oder eingesungene Stimmen vermitteln Botschaften von Liebe und Zusammenhalt, die gleichermaßen wahrhaftig wie gelogen sind, und über allem thronen die wärmsten und weichsten Flächen, in die man sich jemals hat reinfallen lassen können.

Es gibt kaum Clubmusik, die mehr Eskapismus und Hedonismus ausstrahlt, mehr Harmonie anbietet und mehr Glück verspricht als Italo House in den 1980er und frühen 1990er Jahren. Aber die Realität hat noch längst jede Illusion zur Strecke gebracht, und Italo House erging es nicht anders. Viele Prachtclubs an der Adria wirkten irgendwann wie Relikte und mussten schließen. Tän­ze­r:in­nen brauchten andere Attraktionen, Clubkultur wollte mit neuen Trends gefüttert werden, DJs und Produzenten wollten sich nicht länger wiederholen. Die Spuren sind dennoch nicht mehr zu tilgen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Revival-Zyklen wieder bei Italo House gelandet sind. Im Internetzeitalter ist eine musikalische Stilrichtung schnell erschlossen und über virtuelle Verkaufsportale verfügbar, und so treibt mittlerweile eine junge Generation die Gebrauchtpreise der Originale in den Bereich des Irrsinns, veröffentlicht aber auch Legendäres und Vergessenes neu. DJs, Produzenten und Publikum verfallen wieder den bewährt verführerischen Reizen dieser Musik.

Und es gibt auch wieder haufenweise aktuelle Produktionen, die den Faden da aufnehmen, wo man ihn Mitte der 1990er Jahre hat fallen lassen, mit frischen Ideen und modernen Mitteln. Etwa von den norwegischen Künstlern Skatebård und Burger und vom italienischen Produzenten Cosmic Garden (Nicola Loporchio). Das Leben wird nicht einfacher, die Sorgen werden nicht weniger, und dann kann man auch ruhigen Gewissens zu bewährten House-Mitteln greifen.

Artikel in der Taz

Radiosendung zum Thema mit Tereza für COSMO


All Night Long – Resident DJs in der Clubkultur

Posted: February 7th, 2017 | Author: | Filed under: Texte Deutsch | Tags: , , , | No Comments »

In den Anfängen der Clubkultur in den frühen 60er Jahren war das Renommee eines Clubs untrennbar mit dem Stamm- oder Resident DJ verbunden, und das über blieb Dekaden so, teilweise bis heute. Das hat natürlich gute Gründe. Ein Club muss mit Leben gefüllt sein. Ein Club kann nur florieren, wenn er möglichst oft gut besucht ist. Um das zu gewährleisten, suchten die Clubbetreiber nach DJs die das Charisma, die Fertigkeiten und den Geschmack hatten, ein loyales Stammpublikum aufzubauen, das regelmäßig in den Club kam, um genau diesem DJ zuzuhören. Wenn jemand das besonders gut konnte, versuchte die Konkurrenz den DJ abzuwerben, und man konnte sich stetig eine Karriere aufbauen. Gerade der Konkurrenz- und Erfolgsdruck war aber auch eine große Hürde. Die Clubbetreiber und ihr Publikum stellten hohe Ansprüche, im Krankheitsfall lauerten schon DJs aus dem zweiten Glied darauf, den Stammplatz streitig zu machen, und vor allem das Arbeitspensum jener Jahre war eine hohe Belastung. Denn der Resident DJ spielte mehrmals die Woche, vom Anfang bis zum Ende der Nacht. Ich habe mal ein zwölfstündiges Set von Robbies Leslie gehört, aufgenommen 1985 im New Yorker Club The Saint, einem Wallfahrtsort der schwulen Clubkultur. Der Mann leistet sich in der ganzen Zeit nicht einen einzigen verpatzten Übergang, und das mit Plattenspielern mit Riemenbetrieb, und teilweise mit Platten, bei denen ein Mensch das Schlagzeug bedient, und nicht ein Gerät. Dann stelle man sich die gleichen Arbeitsstunden beim DJ-Pionier Francis Grasso vor, der Anfang der 70er nicht mal über 12“s und die dazugehörigen Extended Versions der Musik verfügen konnte, geschweige denn einen vernünftigen Mixer. Diese DJs waren wirklich harte Hunde, und viele von ihnen konnten die enormen Belastungen ihrer Arbeit nur mit Hilfe von Drogen bewältigen, was meistens nicht über längere Zeit gut ging.

Hat man sich aber die Treue des Publikums erarbeitet, bietet die lange Distanz einer Residency für den DJ erheblichen Spielraum. Zum einen weiß man, was die Tänzer wollen, man hat es ihnen ja schließlich selbst beigebracht, zum anderen kann man sein Publikum auch dahin bringen Musik zu mögen, die es vorher noch nicht kannte, oder sogar mochte. Man hat einen Vertrauensvorschuss, der lange genug anhält um etwas auszuprobieren. Wenn es gut läuft, verschafft man sich damit noch mehr Spielraum, und auch noch mehr Fame. Wenn es schlecht läuft, wird einem noch verziehen. DJs wie Larry Levan und Ron Hardy spielten Testpressungen und Bandaufnahmen die ihnen gefielen so oft, bis sie allen gefielen. Die vielleicht größten und wichtigsten Klassiker in der Geschichte der Clubmusik wurden von Resident DJs durchgesetzt, weil sie ihr Potential erkannten, und das ihren Tänzern auch vermitteln konnten. Ein Resident DJ hat zudem die Möglichkeit, einen Sound zu vereinnahmen, zu definieren und weiterzuentwickeln. Viele berühmte DJs stehen immer noch für einen bestimmten Sound, den sie in einer Residency entwickelten. Siehe z. B. Junior Vasquez in der Sound Factory, Tony Humphries im Club Zanzibar, Alfredo im Amnesia, oder Frankie Knuckles im Warehouse. Eine Residency kann so erfolgreich sein, dass der damit verknüpfte Sound Kreise zieht, aufgenommen wird, und sich bestmöglich sogar als eigenes Genre etabliert. Der Resident DJ kann selbst bestimmen, wie man dabei vorgeht. Eine langer Zeitraum muss Nacht für Nacht gefüllt werden, und man kann und sollte nicht stundenlang auf die Tube drücken. Eine Residency hat eine individuelle Dramaturgie, einen Prolog, einen Epilog, und dazwischen meistens mehrere Höhepunkte, zu denen sich wie in einer Achterbahn hochgeschraubt wird, und wieder herunter. Viele Resident DJs entwickeln auch Markenzeichen, welche die Identifikation ihrer Tänzer mit dem Club unterstützen. Mix-Techniken, Sound- und Lichteffekte, und vor allem bestimmte einzelne Tracks oder Sequenzen mehrerer Tracks, der Reiz des Zusammenspiels entsteht gerade dort wo man ist, und wird für immer damit verbunden bleiben. Die Tanzfläche dankt eine solche Leistung dann gerne auch mit Ritualen, Bewegungen oder Fashion-Impulsen, und führt die stilprägende Eigendynamik der Residency fort. Ein interaktiver Raum entsteht, in dem die große, gemeinsame Geschichte erzählt wird. Man kann viele DJs und Clubgänger treffen, die von solchen Erfahrungen tief geprägt sind, und es für das Nonplusultra halten.

Die Definition einer Residency hat sich über die Jahre verändert. Natürlich gibt es immer noch Clubs und DJs, die nach diesem Prinzip funktionieren. Aber der Club, der über Jahre nur von einem oder wenigen festangestellten DJs bespielt wird, ist nahezu ausgestorben. Als Resident DJ wird im Allgemeinen der DJ bezeichnet, der allwöchentlich vor oder nach den Guest DJs auflegt. Natürlich ist das eine sehr wichtige Funktion im Getriebe, und sie bietet auch noch einige Freiheiten, die eine herkömmliche Residency mal charakterisiert haben. Aber sollte es sich um einen älteren Guest DJ handelt, besteht eine gute Chance, dass dieser sich seinen Status als tourender DJ noch mit einer Residency erarbeitet hat, die komplett der klassischen Definition entspricht. Vor allem englische Clubs haben Ende der 80er möglichst viele DJs gebucht, auf immer größeren Veranstaltungen. Daraus hat sich ein flächendeckender Teufelskreis ergeben, unter dem die Geduld und die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums eher gelitten hat. Man erlebt in der Regel pro Nacht mehrere Kurzgeschichten, die nicht immer ein Ganzes ergeben, das im Gedächtnis bleibt. Und viele DJs haben eine Residency in gedachten Anführungszeichen, in verschiedenen Clubs, in verschiedenen Ländern, und spielen nur einen Teil der Veranstaltung, nur ein paarmal im Jahr. Da kann man dann auch keinen größeren Bogen spannen als der DJ, der zu Besuch ist, und in einem beschränkten Zeitrahmen für seinen Marktwert den bestmöglichen Eindruck hinterlassen muss, mit den entsprechenden Kompromissen, und oft mit dem entsprechenden Mangel an Überraschungen.

Ich bezweifle, dass sich das Rad nochmal zurückdreht, es muss auch nicht sein. Trotzdem ein Hoch auf jeden Club, der sich bemüht, die lange Distanz vor der Vergessenheit zu bewahren. Viele ehemalige klassische Resident DJs freuen sich über die Gelegenheit, sich nochmal eine ganze Nacht lang beweisen zu können, viele jüngere DJs die nie Resident gewesen sein konnten, vermissen die Gelegenheit, es überhaupt mal zu versuchen. Für viele Clubgänger bietet sich aber in jedem Fall eine Alternative, die man erlebt haben sollte. Wenn diese Schule also nochmal ihre Türen öffnet, tretet ein. Man lernt eine ganze Menge.

Club Zukunft Fanzine 02/17


Berghain Flyer 02/17

Posted: January 31st, 2017 | Author: | Filed under: Texte Deutsch | Tags: , , , , | No Comments »

Zum Vergleich

April 1996. Seit seinem Eröffnungs-Wochenende vor einem Jahr bin ich Resident-DJ in einem Kieler Club namens . Ab und zu lege ich mittwochs auf wonach mir gerade der Sinn steht, oder donnerstags Soul, gelegentlich springe ich auch freitags ein, wiederum Soul und Disco. Musik, mit der ich in den mittleren 80ern als DJ angefangen habe. Hauptsächlich bin ich aber für den Samstag zuständig. Dann spiele ich in erster Linie House und Techno, gerne mit Ausflügen in deren Vorgeschichte. Resident-DJ heißt die ganze Nacht auflegen, allein. Unter der Woche von 22 Uhr bis 3, am Wochenende von 22 Uhr bis 5. Eigentlich gibt es eine Sperrstunde, aber das sieht man in der Stadt nicht so eng. Es dauert also oft auch wesentlich länger. Ich spiele jeden Samstag, und manchmal an den anderen Tagen noch dazu. Das macht es mit dem Studium etwas schwierig, aber noch kriege ich es hin.

Der Club war schon vor sehr langer Zeit ein Club, dann ein Billard-Salon mit Spielautomaten, dann eine Cocktail-Bar. Es hängen zwei wuchtige JBL-Boxen über der Tanzfläche, mein Arbeitsbereich ist daran angrenzend in den Tresen integriert, der sich ungefähr durch die Hälfte des Ladens schlängelt. Ich verfüge über zwei MKs und einen etwas überdimensionierten Ecler-Mixer. Es gibt keine Monitor-Boxen, ich mixe halb über die Tanzfläche, halb über Kopfhörer. Der Club fasst ca. 100 Leute und es gibt jede Nacht . Der Freitag läuft gut, deswegen muss man Samstag zeitig kommen um erst einmal wieder aufzuklaren, da die Ausrüstung in Zeitraffer altert, die Instandhaltung hingegen in Zeitlupe. Ich habe ein paar hundert Platten hinten im Büro deponiert, um weniger heranschleppen zu müssen, bringe aber trotzdem immer zu viel mit. Es gibt Slipmats und Kopfhörer, aber die taugen nichts, bringe ich auch mit. Ich wohne nicht weit weg, aber weit genug, ziehe aber trotzdem alles mit einer Sackkarre aus dem Baumarkt und einem viel zu schweren Alu-Flightcase hierher. Zurück nehme ich dann manchmal ein Taxi, je nach Erschöpfungszustand.

Meine Gage bewegt sich etwas undurchsichtig zwischen Eintritt, Umsatzbeteiligung und Getränkeumsatz und ist ziemlich elastisch. Der Eintritt liegt bei 5 Mark, das finden viele Gäste ziemlich übertrieben. Mein Rekord liegt bei 400 Mark für eine Nacht, aber da war es auch wirklich voll und ging sehr lange, ansonsten eher 100 bis 200 Mark, manchmal auch weniger. Das Publikum ist etwas unzuverlässig. Meistens ist es gut bis sehr gut gefüllt und man sieht vertraute Gesichter, die jeden Samstag wiederkommen, weil ihnen die Musik gut gefällt, und weil es gut bis sehr gut gefüllt ist. Zur Zeit gibt es keinen Club mehr in der Stadt, der bewusst eine Nacht einem Musikstil widmet, und das mit amtlicher Auswahl. Dieses Missverhältnis hilft, aber oft reicht auch eine private Veranstaltung, auf die sich alle einigen können, und das Publikum und die Gage dezimiert sich erheblich. Es gibt auch keine richtige örtliche Szene für die Musik. So ungefähr 20 Leute in der Stadt kennen genauer, was man auflegt, dem Rest gefällt es einfach, und man tanzt gerne dazu. Die Angst, alles könnte nächsten Monat wieder vorbei sein, verübt daher stetigen Druck.

Das Publikum setzt sich aus Studenten und Individualisten zusammen, letztere zum Teil noch nicht so lange nachts unterwegs, viele aber auch schon wesentlich länger. Der Zulauf von Leuten aus den anderen etablierten Clubs der Stadt und den Touristen von den Fähren ist übersichtlich, wird aber toleriert. Das Verhältnis auf der Tanzfläche männlich/weiblich ist ungefähr 50/50, beim DJ- und Tresenpersonal ungefähr 30/70. Die Schwulen in der Stadt gehen mehrheitlich auf schwule Veranstaltungen, Afrikaner kommen meistens sonntags zum Reggae, Türken und Araber meistens wenn Hip Hop läuft. Es werden viel Alkohol und Drogen konsumiert und manchmal gibt es Ärger, aber nicht zu oft. Sobald es draußen wärmer wird, halten sich viele Leute auch vor der Eingangstür auf, oder beim Döner-Imbiss gegenüber, aber in der Gegend ist nachts eh viel los, und Nachbarn, Ordnungsamt und Polizei lassen uns weitestgehend in Ruhe. Noch.

Die Flyer für meine Veranstaltungen fertige ich mit Fotos aus Büchern und Zeitschriften im Copy-Shop an, ökonomisch schwarzweiß. Montags mache ich mit dem Fahrrad eine Runde durch die wenigen Plattenläden der Stadt und verteile sie dort. Ein paar großformatige Exemplare hänge ich dort auf, wo schon seit Jahren die Leute nachts vorbeiziehen. Meine Platten kaufe ich, wenn es das Monatsbudget erlaubt, bei Wochenendausflügen in , oder telefonisch bei Hard Wax in . Den Rest des Bedarfs versuche ich mühsam in den lokalen Shops zu decken. Das mit dem Internet gehe ich vielleicht später im Jahr noch an, aber noch beziehe ich alle Informationen über Musik über den Besuch anderer Partys, Bücher und Zeitschriften, oder Tipps von Freunden.

Februar 2017 bin ich seit 14 Jahren in Berlin, und immer noch DJ. Ich schreibe selber über Musik, ich betreibe ein Label mit, und ich arbeite bei Hard Wax. In den Jahren dazwischen hat sich so ziemlich alles verändert, was meine Tätigkeiten ausmacht.

Aber erzählt mir bitte nicht, dass früher alles besser war. Es war bloß anders.

Text für den Berghain Flyer 02/17


Das Radio und ich (1977-2016)

Posted: February 15th, 2016 | Author: | Filed under: Texte Deutsch | Tags: , , , , , , , , , | 4 Comments »

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1977 bin ich acht Jahre alt, und ein Virtuose der Pausen-Taste meines BASF-Kassettenrekorders. Ich nehme vornehmlich Disco und Glam Rock-Ausläufer aus dem auf. Werner Veigel ist der Yacht Rock-Don von NDR 2. Dann sagt Wolf-Dieter Stubel in der Internationalen Hitparade beim gleichen Sender angesäuert „God Save The Queen“ von den Sex Pistols an. Ich bin nicht überzeugt, aber das Musikprogramm wird in den folgenden Jahren wesentlich interessanter.

1981 habe ich das Nachtprogramm vom NDR entdeckt. Innerhalb kurzer Zeit nehme ich unfassbare Konzerte von Palais Schaumburg, Deutsch-Amerikanische Freundschaft und The Wirtschaftswunder auf.

1985 hat das Format-Radio Einzug gehalten, und es läuft gefühlt nur noch Phil Collins.

1985 wird Paul Baskerville schon wieder einen Sendeplatz beim NDR los, und spielt zum Abschied ausschließlich fantastische Musik aus seiner Heimatstadt Manchester.

1988 tanze ich seit zwei Jahren zu House in Hamburger und Kieler Clubs. Zum ersten Mal im Radio höre ich die Musik aber in einer mehrstündigen Live-Übertragung aus dem Hannoveraner Club Checkers.

1989 höre ich auf einer langen Autofahrt durch Frankreich eine beeindruckende Sendung namens „Ecstasy Club“. Aus Müsique forevör! Kurze Zeit später in Palma, auch nur noch House in der Playlist. Deutschland? Fehlanzeige.

1991 fahre ich durch Niedersachsen und kann endlich mal wieder John Peel auf BFBS hören. Er spielt dreimal hintereinander „Gypsy Woman“. Beim zweiten Mal summe ich mit.

1993 bin ich in und mache im Hotelzimmer das Radio an. Noch am gleichen Tag kaufe ich auf dem Portobello Market zahlreiche Kassetten-Mitschnitte von amerikanischen DJs auf Kiss FM und englischen Jungle DJs. Ich will auch Piratensender.

1994 ist meine Freundin als Au Pair in Rom und schickt mir Tape-Mitschnitte von überragenden House-Shows des Senders Radio Centro Suono. Ich bin froh, dass es ihr so gut geht.

1994 startet Boris Dlugosch aus dem Hamburger Clubs seine Mixshow auf dem Jugendsender N-Joy. Jahre zu spät für das regelmäßige Club-Erlebnis im Radio, aber trotzdem höchst willkommen.

1995 zu Besuch in , letzte Love Parade auf dem Kurfürstendamm. Vor ihren Club-Gigs spielen eine Menge DJs im Radio. Ich kriege bis heute nicht raus, von wem der „When Doves Cry“-Bootleg ist, den alle zu haben scheinen.

1997 habe ich auch dieses Internet, arbeite mich systematisch durch die historischen Radioaufnahmen der Mix-Sektion der Page und rücke Kontexte zurecht. Ich brauche alles von WBLS und WBMX und komme mir aus nationaler Perspektive jetzt erst recht betrogen vor.

1999 verbrenne ich eine Menge Geld, um mit meinem AOL-Einwähltarif in Echtzeit ohne Buffer-Aussetzer das Set von Derrick Carter bei der Beta Lounge auf Kassette aufzunehmen und hasse den Real Player mehr als die CDU.

2001 habe ich auch dieses Breitband-Internet. Jetzt brauche ich alle historischen Radioshows, die ich kriegen kann. Kurze später finde ich heraus was ein monatliches Datenvolumen ist. Fies.

2002 habe ich auch diese Breitband-Flatrate und höre regelmäßig das Cybernetic Broadcast System. Dass Italo Disco, die heimlich verehrte Prollmusik meiner frühen Jugend, einmal derart hip sein würde, hätte ich niemals gedacht. Die anderen Bestandteile des Programms freuen mich aber auch.

2004 rotiert auf dem CBS der Acid House-Mix „Smileyville“, den ich mit einem Freund angefertigt habe. Result.

2005 sammle ich immer noch ausgiebig historische Radioshows und Club-Mitschnitte über gängige Suchmaschinen, aber jetzt kommen auch noch Podcasts hinzu. Ich verweigere mich iTunes und lade umständlich einzeln herunter.

2007 frage ich mich, was Steinski wohl so treibt und entdecke seine Themen-Sendungen auf WMFU. Ich höre begeistert Radio, als wären es wieder die 80er. Ein Moderator, ein Thema, Musik zum Thema. Vielleicht geht doch alles etwas zu schnell.

2007 erzählt mir Eric Wahlforss von seinem Start Up zum Austausch unter Musikern und gibt mir einen Voucher. Auf Soundcloud entdecke ich allerdings auch bereits reichlich Fremdeigentum. Mir schwant juristisches Konfliktpotential.

2007 gründe ich mit Freunden das Webzine D*ruffalo und dessen DJ-Exekutive, die D*ruffalo Hit Squad. Wir initiieren die -Serie und peitschen nacheinander alles durch, was uns jemals musikalisch begeistert hat.

schaue ich mir Theo Parrish im Boiler Room an, vom Schreibtisch aus. Ich frage mich wie viel bequemer alles noch werden wird, bevor es alle langweilt.

Entnervt von den allwöchentlichen Gig-File-Tauschbörsen entscheiden Stefan Goldmann und ich den DJ-Mailout unseres Labels Macro einzustellen und stattdessen nur noch Radioshows zu bemustern. Wir recherchieren bis in die entlegensten Winkel und sind erstaunt, was es alles gibt.

2013 beginne ich nach diversen Gastauftritten bei terrestrischen und virtuellen Radiosendern über die Jahre bei dem neu gegründeten Berlin Community Radio meine monatliche Sendung „“. Eigentlich will ich nur präsentieren, was ich mir an neuer Musik von Hard Wax mitnehme, aber dann peitsche ich nacheinander alles durch, was mich jemals musikalisch begeistert hat.

2014 sitze ich auf einem Podium zum Thema Radio und Clubkultur. Monika Dietl hat eine Tüte mit Kassetten dabei, und spielt umwerfende Highlights ihrer Sendungen aus den 90ern vor. Nur Musik zu spielen, wie man es zur Zeit meistens macht, ist eben doch oft nicht alles.

2015 beugt sich Soundcloud dem Druck der Majors bezüglich Copyright-Verletzungen und löscht im Zuge auch die Accounts der Internet-Radiosender NTS, Red Light und Berlin Community Radio. Es folgt ein Exodus zu Mixcloud und anderen Plattformen, mit erheblichem Verlust an Reichweite.

2015 stelle ich aus Zeitmangel schweren Herzens „Hot Wax“ ein, nach 35 Sendungen.

2016 stelle ich zufällig fest, dass ich hundert Mitschnitte von Froggy & The Soul Mafia archiviert habe, obwohl mir die von ihnen gespielte Musik oft zu jazzfunkig und raregroovig ist, um mir das öfter anzuhören. Es ist mir aber egal. Ich weiß noch, wie es 1977 war.

Groove März/April 2016

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Sleaford Mods

Posted: May 15th, 2014 | Author: | Filed under: Texte Deutsch | Tags: , , | 3 Comments »

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Ich interessiere mich schon seit Jahren nicht mehr sonderlich für Bands. Manchmal lese ich über irgendwelche Hoffnungsträger in irgendeiner dieser für Bands zuständigen Fachzeitschriften und mache einen unmotivierten YouTube-Test, und das führt dann fast immer dazu, dass ich mich weiterhin nicht mehr sonderlich für Bands interessiere. Als mir ein guter Freund vor einiger Zeit die Sleaford Mods als momentan beste Band der Welt empfahl, war ich dementsprechend skeptisch, lag aber komplett falsch. Die Sleaford Mods sind tatsächlich die momentan beste Band der Welt.

Jason Williamson, der das Projekt 2006 ins Leben rief, kann mit Bands prinzipiell auch nicht sonderlich viel anfangen. Wohl deswegen waren die Sleaford Mods eine Weile nur er selbst, dann traf er auf Andrew Fearn, und es wurde ein Duo. „I used to be in bands, fuckin hated it“, lautet die einzige Info auf der Bandcamp-Seite. Die ersten vier zwischen 2007 und nur auf Cdr erschienenen Alben waren dort bis vor kurzem noch als Download erhältlich, jetzt sind es nur noch die zwei Alben mit Fearn danach. Warum das so ist, liegt vorerst im Dunkeln. Vermutlich war Williamson erst mit den späteren Songs richtig zufrieden, es lungern offizielle Reissues auf ihren Einsatz, oder es gab die Erkenntnis, dass der rasch fortschreitende Bekanntheitsgrad mit heftigen Copyright-Klagen einhergehen könnte, denn aus der Not des Einzelkämpfers heraus bestand das Anfangswerk aus einem wilden Wust von Samples, querbeet der Northern Soul-, R&B, Beat-, Rocksteady-, Hip Hop- und Punkgeschichte wegzitiert, und das nicht in der obskuren Variante. „No samples cleared, bastards are loaded anyway“, lautete eine diesbezügliche Info zu einem vorerst verschwundenen Frühwerk, und mit diesem Duktus muss man schon klarkommen können, wenn man sich für die Sleaford Mods interessiert, denn er läuft quasi nonstop. Gerne werden Williamsons rotzige Schimpfkanonaden mit großen sozialrealistischen Grantlern der englischen Musikgeschichte wie John Cooper Clarke und Smith verglichen, noch kürzer gegriffen mit Mike Skinner, wohl auch wegen dessen entspanntem Verhältnis zur Musikalität von Beats, aber stets bleibt die Erkenntnis, dass Williamson seine eigene Liga ist. Der Mann hatte offensichtlich eine sehr lange Zeit viele Probleme, und man hofft fast, dass der aufgestaute Frust noch reicht, wenn er nicht mehr so viele hat. Bis dahin hasst er alles und jeden, und das mit Recht. Und sein Fluss von schmerzhaften Beobachtungen und wüsten Beschimpfungen ist so beeindruckend treffend, dass man ihm unbedingt zustimmen muss. Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr Idioten und Idiotie da draußen, schon allein deswegen ist er unverzichtbar. Und die Musik ist es auch, ein Musterbeispiel an Kongenialität. Anfangs bestach der Sound der Sleaford Mods dadurch, dass nur die besten Elemente relevanter Meilensteine als Loops isoliert wurden, und dadurch fast noch relevanter klangen, und darunter durchweg primitive, aber immer passende Beats. Andrew Fearn hat diese Idee noch effizienter gemacht, außer einer mickrigen Beatbox, postpunkigen Basslines und ein paar ausgewählt beiläufigen, aber immer zwingenden Sound-Irrlichtern lenkt jetzt noch weniger von Williamson ab, und trotzdem könnte man sich keinen Song anders vorstellen als er geworden ist. Auf der Bühne setzen sie das ebenso konsequent um. Im Hintergrund Fearn, der einen Laptop vor sich hat, sich aber die meiste Zeit höchstens damit beschäftigt, wie der Kumpel auszusehen, den der Sänger damals auf dem Arbeitsamt kennengelernt hat, und seitdem immer auf die Konzerte mitnimmt. Der komplett referenzbefreite Billo-Fly Boy-Look, mit markenloser Jogginghose, albernen T-Shirts, schlechten Kappen und schlechter Rasur, und immer ein Dosenbier in der Kralle und eine Fluppe im Maul, verantwortlich für den authentischen wenig frische Luft-Teint, merkwürdige Gesichtsausdrücke und sehr ungelenke und unmotivierte Dance-Moves. Williamson auch ein Getränk am Mann, teils zum Schmieren der im Dauereinsatz geforderten Stimmbänder, teils weil es eben auch sein muss. Er ist respekteinflößend charismatisch und eine coole Sau, und niemand wird es je wagen, ihn zu unterbrechen. Sein Aussehen und seine Kleidung verraten den Mod-Part in der Zusammensetzung, aber in der sehr beiläufigen Ausprägung, ein paar Insignien reichen, man nennt sich schließlich nicht die Chelsea Mods, und man hat zu viel Verstand, zu wenig Kohle und immer noch genug Working Class-Stolz um The Face sein zu wollen. Es ist fast ein bisschen rätselhaft, wie die beiden es hinkriegen, so dermaßen gut so viele Subkulturen auf einmal zu sein, sowohl textlich, musikalisch und äußerlich, aber sie kriegen es hin.

Die vielen, nicht sonderlich interessanten Bands müssen die momentan beste Band der Welt so sehr hassen, wie diese den Rest der Welt.

Taz


Work it!

Posted: July 27th, 2013 | Author: | Filed under: Texte Deutsch | Tags: , , , , , , , | No Comments »

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Ein Platten-Label, das in der internationalen House-Szene wohl am schmerzlichsten vermisst wurde, kehrt diesen Sommer zurück: Dance Mania.

Als der Betreiber Ray Barney 1999, von Steuerproblemen und strukturellem Wandel in der Musikwirtschaft geplagt, das Geschäft auf Eis legte, war nicht abzusehen, in welchem Ausmaß das Label aus auch ohne weitere Veröffentlichungen florieren würde. Von 1985 bis dahin waren immerhin fast dreihundert Veröffentlichungen zusammengekommen, eine für die schnelllebige Clubkultur schon bemerkenswerte Taktung. Und doch schrumpften die Bestände in den Plattenläden über die Jahre immer mehr zusammen, bis nur noch wenige Exemplare aus Lagerfunden übrigblieben, hochgepreist auf Sammler-Niveau. Die gesuchtesten Titel des Backkatalogs hingegen schraubten sich auf dem Gebrauchtmarkt bis auf dreistellige Beträge hoch, und so war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Gründungsmitglieder davon Notiz nehmen würden, dass sich das Geschäft wieder ausreichend lohnen könnte.

Denn das Geschäft war vor allem bei Chicago House immer ein entscheidender Faktor. Rocky Jones von D.J. International und Larry Sherman von Trax Records, den maßgeblichen Labels der House-Gründertage, waren Businesstypen von fast schon legendärer Zwielichtigkeit, und auch ihre zahlreichen, mit Knüppelverträgen ausgebeuteten Künstler kommen in Interviews mit größter Wahrscheinlichkeit an den Punkt, an dem es eher darum geht, für die Musik angemessen bezahlt, als angemessen künstlerisch gewürdigt zu werden. Auch bei Dance Mania wurde nach einer gnadenlosen Kosten-Nutzen-Rechnung gewirtschaftet. Der Sound der dort veröffentlichenden Produzenten war schon billig genug, kaum jemand konnte sich hochwertiges Equipment leisten und so manche Genre-Klassiker wurden auf geliehenen Geräten zustande gebracht. Doch man war jung, sprudelte vor Ideen, und man konnte es gleich um die Tat umsetzen, denn auch Dance Mania presste nahezu alles was von den lokalen Talenten angeliefert wurde. Und das natürlich möglichst ökonomisch. Altes Vinyl wurde in den Presswerken recycelt, und man kann die vorher darauf enthaltene Musik irritierenderweise in leisen Stellen noch heraushören. Man sieht auf den Rillen Zeitungspapier, oder sonstwie rätselhafte Krümelreste, viele Platten sind flattrig, und haben regelrechte Kerben am Außenrand. Und der Cut aus dem Mastering-Studio klingt bei einem Großteil der Platten so mumpfig, als hätte der Engineer begeistert ein Dolby-Verfahren benutzt, was schon in der frühsten Beta-Phase verworfen wurde. Kurzum, Dance Mania-Platten sind nichts für audiophil veranlagte Hörer, und so mancher ist schon bei dem Gedanken verzweifelt, welche Wirkung die Musik hätte entfalten können, wenn sie einfach besser klingen würde.

Aber genau das ist natürlich, was die Magie des Label-Repertoires ausmacht. Schon in den ersten Jahren erschienen Ausnahmeplatten von wichtigen Pionieren der House-Geschichte wie Marshall Jefferson („7 Ways“), („Frequency“) und Farley Jackmaster Funk (House Nation“), und obwohl man wie die anderen Chicagoer Labels sämtliche Phasen nach der ersten Blütezeit durchlief, zuerst Acid House, dann Vocal- und Hip House, es gab immer diese Tracks, die sich etwas weiter voran wagten als das Restgeschehen. Und als dann die Konkurrenz den Level der ersten Erfolge mit kommerzielleren Stücken erzwingen wollte, ging man bei Dance Mania den entgegengesetzten Weg, und wurde radikaler. Ausgehend von den reinen Rhythmus-Tools in den Sets legendärer DJs wie Ron Hardy oder dem Hot Mix 5-Team des Radiosenders WBMX, entschlackte man jeglichen Ballast bis auf das Basisgerüst, den Track. 1990 erschien „Armani Trax“ von Robert Armani und bestand nur noch aus einem Beat, Handclaps und einem sich stetig wiederholenden schabenden, metallischen Geräusch. Dennoch erzielt das Stück nur mit diesen minimalen Mitteln eine beeindruckende Sogwirkung, und der dazugehörige Erfolg machte schnell Schule. Nicht nur in den lokalen Clubs, sondern auch für die schnell wachsende Techno-Szene Europas waren die rauen Tracks aus Chicago von u.a. DJ Rush, Parris Mitchell oder Glenn Underground eine willkommene Alternative. Von ihrer oft fragwürdigen Klangqualität abgesehen waren sie das perfekte Werkzeug, dynamisch, punktgenau und bedingungslos effizient. Ob alleinstehend in ihrer ganzen ausgefuchsten Reduktion, oder im Mix als Unterstützung von auswärtigen Stücken mit mehr Arrangements, aber weniger Energie. Ab 1994 erhielt diese Mischung aus Beats und wenigen, markanten Tonsignalen eine neue Bedeutung durch die Zufuhr von Elementen aus dem Gangster-Bereich des Hip Hop, und wurde zu Ghetto House. Schon vorher waren Dance Mania-Platten gerne explizit, aber Produzenten wie , DJ Deeon oder Jammin’ Gerald trieben es auf die Spitze. Das Tempo wurde weiter erhöht und wenn man Fotos aus den Clubs in Chicago aus jener Zeit betrachtet, wird schnell klar, dass sich der rasant hochpegelnde Sexual Content vor allem an die Mädels richtete, die auf der Tanzfläche die komplette Sau rauslassen. Denn Tanzen zu dieser Musik war eine zutiefst physische Angelegenheit und wurde mit größter Hingabe betrieben. Und auch wenn man ein mehrstündiges DJ-Set nur mit Tracks bestreiten konnte, in denen man von einer herrischen Stimme aufgefordert wurde, irgendein Körperteil zu whippen oder zu worken, oder beides, die Musik war eine Dienstleistung unter extremer Belastung, die von den Künstlern sehr ernst genommen wurde.

Nach einigen Jahren, in denen sich dieser Sound wie geschnitten Brot verkaufte, ging es wieder zurück in den Untergrund, und nach der Pleite des Labels entwickelte es sich zu Phänomenen wie Juke oder , welche noch schneller aber rhythmisch vertrackter waren, und daher mit offenen Armen in der UK-Bass-Szene aufgenommen wurden. Und wie so oft wenn etwas aufgegriffen wird, besinnt man sich auf die Ursprünge, und der Funke springt in alle Richtungen. Schon bald hörte man die Dance Mania-Prototypen nicht nur in aktuellen Produktionen wieder, sondern auch im direktem Einsatz in der DJ-Kanzel, sei es in Kombination mit neueren Tendenzen oder in nostalgischer Reinkultur.

Natürlich ist es bezeichnend, dass der elektronischen Musik nach all den Jahren was zu fehlen scheint, das die Reaktivierung von Dance Mania immer noch bieten kann, aber schön ist es allemal. Und diesmal klingen die Platten besser, und jeder wird bezahlt.

taz 07/13


Danger

Posted: August 5th, 2012 | Author: | Filed under: Texte Deutsch | Tags: , , , , | 1 Comment »

Auf der ganzen Welt sind unzählige Clubs gekommen und gegangen. Es gibt aber nur wenige, die gehen und trotzdem bleiben. hatte so einen Club. Und was für einen. Die unleugbaren musikalischen Impulse (von Disco ausgehend alles was auch heute noch zählt), die dafür zuständigen fantastischen DJs (und zwar alle, plus illustre Gäste), das unfassbare Publikum (alle alle alle sind gemeint), der ganze wöchentliche Wahnsinn (an mehreren Tagen der Woche), das ganze mythische Gesamtkunstwerk (jede Devotionalie ist ein Zeugnis ablegendes Artefakt geblieben).

Im Keller des Club im Heidenkampsweg 32, nähe Berliner Tor, sind mehr Erinnerungen geprägt worden als in anderen Clubs anderswo im Land, und anderswo sonst. Wahrhaftige Erinnerungen, gestützt von Worten und Taten derer, die dabei waren, und alles was erlebt wurde gerade deswegen weiterbestimmen, weil sie selber so davon so nachhaltig bestimmt worden sind. Wodurch eine Geschichte geschrieben wurde und wird, die wichtig ist, wegweisend, schillernd, imposant, neiderregend auch, und auch einschüchternd.

Die Erinnerungen sind tatsächlich immer noch so detailliert und unmittelbar da, als wäre in all den Jahren seit der Schließung dieses Clubs 1997 gar nichts weiter passiert. Natürlich ist eine ganze Menge passiert, aber nicht genug, um diese Party in den Köpfen der Augenzeugen von einst mit einer anderen Party zu ersetzen. Und viele dieser Augenzeugen haben danach nachweislich alle möglichen anderen Clubs ausprobiert. Aber dieser eine Club, der ist immer noch die erste Wahl, auch wenn er sich realistisch gesehen gar nicht mehr wählen lässt.

Je länger diese Erinnerungen zurückliegen, desto sentimentaler werden sie, und unsachlicher. Und sie werden immer unwirklicher für diejenigen, die den Club nur aus Erinnerungen anderer kennen. Daraus kann eine besserwisserische Haltung auf der einen, und eine ablehnende Haltung auf der anderen Seite entstehen. Das wäre aber niemals im Sinne des Clubs gewesen. Und darum gehört diese Legende auf den Prüfstand. Und zwar im vollem Umfang, und zwar möglichst bald.

Das aber ist nicht so einfach. Das Publikum von einst ist in alle Winde zerstreut, und auch wenn es nur diese Ankündigung braucht um sie wieder zu sammeln… Die Räume des Clubs, sie sind in der Zwischenzeit anders, zu anders. Es darf nicht versucht werden, das Spektakel dort zu rekonstruieren, weil es nichts mehr zu rekonstruieren gibt. Alles wurde mitgenommen, aufbewahrt, oder auch entsorgt. Oder schlimmer: umgebaut, entfremdet, entweiht.

Gleichwohl ist der Club noch so präsent, dass er durchaus wieder aufleben kann. Es müssen nur die dabei sein, die damals dabei gewesen sind, und zwar möglichst viele, und möglichst viele, die endlich dabei sein wollen. Und sie müssen die Legende gemeinsam prüfen.

Fast das komplette Personal von einst tut alles, damit das geschehen kann. Die DJs, Tür, Garderobe, Bar. Und: eine beachtliche Menge der Platten von damals warten ebenfalls auf ihren Einsatz. Nur die, die den Club 1983 gründeten, sind nicht mehr da. Weil sie nicht mehr leben. Sie können es nicht mehr erleben, was jetzt passiert. Was sehr sehr traurig ist, aber auch erklärt, warum sich alle Beteiligten so verdammt viel Mühe geben, dass diese einmalige Auferstehung des Clubs dreißig Jahre nach der Eröffnung sich des Anlasses würdig erweist, und hoffentlich darüber hinaus.

Und können wir jetzt endlich mal einen Namen hören?

Der Name ist Danger!, wie die Schilder die dann aufflackerten, wenn die Ekstase am größten war.

25.8.2012 ab 22:00h

Brandshof

Brandshofer Deich 114

Lasst es brennen.

Lasst uns brennen.

Sehr sehr bald!

Info, Playlist + Fotos


Limited Unlimited

Posted: December 16th, 2011 | Author: | Filed under: Texte Deutsch | Tags: , | No Comments »

Durch die Umwälzungen, die durch Downloads und digitales DJing ausgelöst wurden, rückte im letzten Jahr mehr und mehr eine Käuferschicht in den Vordergrund, die zwar immer befriedigt wurde, und befriedigt werden wollte, aber selten so direkt in der Peilung war: Sammler und Komplettisten. Man konnte sich als Künstler, Label und Vertrieb schon immer auf diese Konsumenten verlassen, wenn man Veröffentlichungen mit wie auch immer geartetem Mehrwert verkaufen wollte, doch nun schien es fast, als wäre man in Zeiten schwindender Erlöse aus physikalischen Tonträgern direkt auf sie angewiesen.

Vor allem am Marketplace, dem mittlerweile ausschlaggebenden Gebrauchtmarkt für elektronische Musik, ließen sich Entwicklungen verfolgen, die vorher zwar auch existierten, aber in schwächerer Ausprägung. In Zeiten des virtuellen Informationsüberflusses konnte man sich binnen kürzester Zeit mit dem nötigen Wissen ausstatten, um das jeweilige Sammelgebiet in Angriff zu nehmen, und dann war auch alles gleich verfügbar, denn es drängten weitaus mehr als zuvor ältere und neuere Second Hand-Platten in den Markt. DJs lösten ihre vorher digitalisierten Plattensammlungen auf, um sie danach gewinnbringend zu verkaufen, und viele neue Händler, von heftigen Verkaufspreisen für Raritäten angelockt, versuchten ihr Stück vom Kuchen abzubekommen. Folglich fiel der Preis für etliche vormals kaum erschwingliche Releases zusehends. Um da noch auf einen vernünftigen Schnitt zu kommen, musste man sich als Verkäufer auf ein Angebot spezialisieren, das entweder über Masse den Profit generiert, oder die Klasse anbieten, die eben noch nicht vom Preisverfall betroffen war. Also ältere Platten, die seit Jahren einfach immer selten und teuer waren und sein werden, und neuere Platten, die vom Release-Termin an einfach nur darauf ausgelegt waren, selten und teuer zu sein.

Die Produktionsseite stellte sich jedenfalls schnell auf die neuen Tendenzen ein. Den Boden bereitete eine Vielzahl von Wiederveröffentlichungen, entweder gewissenhaft lizensiert, ausgestattet und kuratiert, oder höchst windige und schnellgeschossene Bootlegs, und beider Release-Plan orientierte sich ziemlich präzise an Angebot und Nachfrage des Gebrauchtmarktes. Je rarer, je lukrativer. Erstaunlicherweise waren vor allem viele Bootlegs oft dicht dran am Preis der Originale, ohne das Original-Artwork, oder sogar das Original-Tracklisting bieten zu können, und verkauften sich trotzdem prächtig. Sei es Bequemlichkeit oder Kaufreflex, charakteristische Verhaltensweisen des Sammlerpublikums ließen sich nicht nur bestenfalls effektiv einkalkulieren, sie wurden auch schlimmstenfalls schamlos ausgenutzt.

In einer beachtlichen Anzahl von Vertriebsankündigungen fiel das Wort „limitiert“, ungeachtet der Tatsache, dass viele Platten ohnehin nicht mehr Auflage absetzen können, als sie limitieren. Das ist keine neue Strategie, und eine durchsichtige dazu, die aber immer noch oft funktioniert. Man hat mehr Plattformen und Kanäle zur Verfügung als je zuvor um Beschaffungshektik auszulösen und dem Käuferkreis zu versichern, er könne leer ausgehen, wenn er sich nicht sputet. Oft ist das tatsächlich der Fall, das ist prinzipiell seit jeher der Schnelllebigkeit der Clubmusik geschuldet, entsprechenden Risikokalkulationen, aber auch dem Bestreben, mit künstlicher Verknappung ein Sammlerobjekt zu kreieren. Künstler bzw. Label erhoffen sich Releases, die durch unbefriedigte Nachfrage gesucht sind und somit den Backkatalog aufwerten, der Käufer erhofft sich, im Besitz eines Sammlerobjektes zu sein, auf dessen zeitnahe Aufwertung sich spekulieren lässt. Tatsächlich steigen viele schwer erhältliche bzw. schwer erhältlich gemachte Platten rasant im Preis und lassen sich dann gewinnbringend wiederverkaufen. Diese Preise fallen aber ebenso rasant wieder, da muss man den Kurs sehr regelmäßig im Auge behalten.

Der stärkste Motor dieser Vorgänge ist natürlich der Kultstatus. Und hat sich ein Label oder ein Produzent mit entsprechendem Output diese Stellung erarbeitet, ist es zwar nicht zwingend, aber durchaus legitim, wenn sich das im Preis von Veröffentlichungen niederschlägt, sofern der Output diese Vorgehensweise auch über einen längeren Zeitraum rechtfertigt. Als Verbraucher muss man für sich selbst entscheiden, ob man bereit ist, für den Namen mit zu bezahlen, was dann auch einer Respektbekundung gleichkommt, oder ob sich dieser Name mit der Zeit verbraucht. Und da die Berichterstattung heutzutage eher mehr Nachschub an Namen braucht als früher, kann das schneller gehen als ursprünglich gedacht. Auf jeden Fall gilt auch hier, dass es mindestens genauso schwierig ist, einen Status zu erreichen, wie ihn zu behaupten. Wer konstant ein paar Euro mehr auf den Einkaufspreis aufschlägt, weil er sich seiner Fans sicher wähnt, muss auch entsprechend liefern, denn Sammler sind nicht nur schnell entflammt, sie kühlen auch schnell wieder ab, und sie sind potentiell nachtragend. Der Bogen lässt sich oft eine ganze Weile überspannen, aber dann ist nicht nur genug, sondern Schluss, und man kehrt meistens auch nicht zurück. Es gibt immer noch genug andere Fische im Teich.

Paradoxerweise ist der Mehrwert, den Vinyl-Releases als Abgrenzung zu Audiofiles bieten sollten, zum Problem geworden. Pop- und Szenestars sowie sonstige Veröffentlichende in Aufschwung, Stagnation oder Abschwung schließen die Tore von Beginn an über Auflage, Preis und verkomplizierte Verteilungen an ausgesuchte Läden, und Sekundärhändler multiplizieren die Anfangsgebote um ein Vielfaches. Alles oft bevor die Releases überhaupt wirklich in den Handel gekommen sind.

Und so mancher wird sich schon binnen kurzer Zeit fragen, ob die vorsichtshalber doppelt gekaufte  limitierte Erstauflage mit Vollbildcover, das Poster, oder der unveröffentlichte Bonustrack den ganzen Hassel wert war. Wenn man nicht nur sowieso gar kein Cover hat, ein gestempeltes Label, und Musik, die eigentlich nicht die Qualität hat, in den Gegenwert hinein zu altern, den man ursprünglich angemessen bezahlt zu haben glaubte. Bis dann der nächste Hype losgetreten wird.

Groove 01/12


Credit To The Edit

Posted: June 23rd, 2011 | Author: | Filed under: Texte Deutsch | Tags: , , , , , , , | No Comments »

Credit To The Edit

Noch lange nach dem offiziellen Niedergang zog sich das Erbe der Disco-Ära mehr oder weniger latent durch das jeweils aktuelle Clubmusik-Geschehen, aber in den letzten Jahren nahm die Auseinandersetzung mit dem Thema neue Formen an. Damit einhergehend meldete sich eine Form der Musikbearbeitung zurück, die schon abgelegt schien: der Edit. Wo zur klassischen Phase des noch DJs und Produzenten zu Schere und Klebeband griffen, um individuelle Versionen für Club-Sets maßzuschneidern, führten die fortschreitenden technischen Erleichterungen in der Musikproduktion zu einer Flut von Edits bekannter oder obskurer Titel. Es war nun geradezu üblich, sich erst mit ein paar editierten Fremdkompositionen schwankenden Mehrwerts einen Namen zu machen, und sich dann allmählich als eigenständiger Künstler zu etablieren. Je mehr Disco sich in die breite öffentliche Wahrnehmung zurückmeldete, desto weiter drifteten die Lager derer auseinander, die Disco in immer entlegenere, spezialisiertere Winkel erforschen wollten, und derer, die Disco einfach mehr Popularität wünschen. Aber beide Lager machten für ihre Zwecke zahllose Edits. Bis dahin wurde jedoch schon ein ganz schön langer Weg zurückgelegt.

Ab Mitte der 70er Jahre war die Bandmaschine fester Bestandteil der Setups von Studio und DJ-Kanzel. Schon 1974 nahm der New Yorker DJ John Addison damit seine Sets im Club auf, und ungefähr zur gleichen Zeit verbrachte Tom Moulton, frustriert von den damals noch gängigen Fade-outs und Pausen auf der Tanzfläche, etliche Arbeitsstunden damit, Tapes für den Club Sandpiper auf der Schwulen-Enklave Fire Island zusammenzuschneiden, auf denen die Songs ineinander übergingen. Der Arbeitsaufwand, die Methodik und das Arbeitsgerät dabei waren mit dem Cutter beim Film vergleichbar, und man brauchte eine Menge Geduld und ein fein abgestimmtes Ohr dafür, die Parts der Musik harmonisch und punktgenau zu trennen und an anderer Stelle wieder zusammenzufügen. Moulton war somit nicht nur ein Pionier der Mix-Compilation, er führte 1976 auch die 12“ in die Clubkultur ein, als er eine verlängerte Version von Moment Of Truths „So Much For Love“ für das Format anfertigte (seine Glanztaten als Mixer würden diesen Rahmen sprengen). Moulton war jedoch nie DJ, wohingegen der legendäre Walter Gibbons, der sich mit ihm anhand seiner Version von Double Exposures „Ten Percent“ die Verdienste um die erste 12“ teilte, seine Erfahrungen als Ausnahmetalent in der Kanzel in seine Edits einfließen ließ. Die Mixe, die er im Club machte, indem er bestimmte Parts von Songs am Mischpult ausdehnte und wiederholte und ihnen somit eine völlig neue Dramaturgie und Dynamik verlieh, bannte er bald auf Tonbänder und Acetat-Pressungen, um sich die Arbeit im Club zu erleichtern. Und in Zeiten, in denen der DJ pro Nacht viele Stunden am Stück zu arbeiten hatte, war das ein ernstzunehmendes Kriterium. Die Umstrukturierung eines Stückes mittels Editieren war demzufolge schon von Beginn auch durch Funktionalität definiert, gleichermaßen das Erlebnis auf der Tanzfläche betreffend, als auch das Wirken des DJ, der für das Erlebnis sorgt. Schnell wurde aus der tanzbareren Alternative zum Originalversion der Standard, und ein DJ ohne signifikante eigene Edits war kaum noch konkurrenzfähig. Anfang der 80er, nach dem klassischen Disco-Boom, wurde dieses Gewinnerteam nicht ausgewechselt, sondern weiterentwickelt. In New York zogen Studio-Asse wie François Kevorkian oder Shep Pettibone wegweisende Lehren aus den frühen Tagen des Edits, und arbeiteten ihr Ausgangsmaterial von Underground bis Pop zu kaum noch wiedererkennbaren Versionen um. Gleichzeitig sorgte die etwas jüngere Generation, am prominentesten vertreten durch die Latin Rascals und Mr. K alias Danny Krivit, dafür, dass einerseits die Tradition neu erblühte, andererseits den Anschluss an neue Sounds fand, und von England aus kümmerte sich Greg Wilson darum, dass die Kunst des Edits von England aus auch in Europa um sich griff. In rumorte wenig später bereits das Phänomen House, das maßgeblich von den dort tätigen DJs Frankie Knuckles und Ron Hardy auf den Weg gebracht wurde, wobei auch ihre Edits eine gewichtige Rolle spielten, vor allem die radikalen Dekonstruktionen, mit denen Ron Hardy seine favorisierten Tracks behandelte.

Als House dann ab Ende der 80er seinen Siegeszug antrat, wurde der klassische Edit vom Sampling verdrängt und geriet aus dem Blickpunkt. Nicht nur das mühselige Arbeiten mit Tapes war schon längst Vergangenheit, man konnte mit Sampler und Sequenzer wesentlich schneller vorgehen, und oft war eine gezielte Referenz wichtiger als eine sorgfältig arrangierte Neubearbeitung. Aber schon in den 90ern wurden diese Referenzen wieder nostalgischer, und man erinnerte sich daran zurück, dass eine eingehende Beschäftigung mit prägnanten Einzelparts einem Track zu neuem Glanz verhelfen konnte. Dieser Glanz färbte auf die liebevollen Edits ab, die und Gerry Rooney auf Black Cock veröffentlichten, und zog sich von den Dub-Exkursionen der , den Respektbekundungen Ashley Beedles, der Expertise von und Dimitri from bis hin zur Experimentierfreude Theo Parrishs und der verantwortungsbewussten Archäologie von Morgan Geist.

Viele der genannten Protagonisten bestimmen auch die Renaissance des Edits in den letzten Jahren. Auch sie bedienen sich dabei der Neuerungen, die die Herstellung eines Edits wesentlich vereinfacht haben. Tonbänder sind jetzt Files, Schnitt- und Mischpulte sind Produktionssoftware, und das Studio ist im Laptop. Der Weg vom Original bis zum Edit hat sich auch vor dem Hintergrund virtueller Distributionswege derart verkürzt, dass vom Flohmarktfund bis zum Release theoretisch nur wenig Zeit vergehen muss. Damit geht aber leider oft eine Bootlegger-Mentalität einher, die sich nur noch rudimentär um die Qualitäten und Lizenzrechte von Basismaterial schert, und die Auswahl der Musik beschränkt sich nur zu häufig auf Distinktion durch Obskurität und Verfügbarkeit. Tracks werden dann nicht mehr individuell interpretiert, sondern nach den Convenience-Geboten modernen Auflegens zwangsbegradigt. Kickdrum schlägt Schlagzeuger, Arrangement schlägt Neuarrangement. Natürlich gibt es genug Produzenten, die, dem Grundgedanken der Edit-Klassiker gemäß, einen Track so auseinander- und wiederzusammenbauen, dass ein Mehrwert entsteht, aber man muss in der Schwemme von Edits, die daran nicht weiter interessiert sind, immer tiefer tauchen. Über die Verantwortlichen dafür stellte Lars Bulnheim, Gitarrist bei Superpunk und begnadeter Soul-DJ, einst treffend fest: „Da will einer Kalif sein, anstelle des Kalifen“.

Es lohnt es sich in jedem Fall, sich bei den Pionieren zu unterrichten, wie man mit einem Edit eine neue Version schafft, die neben der alten Version mindestens besteht. Anschauungsmaterial dafür gibt es mehr als genug.

25 Edits:

Bettye Lavette – Doin’ The Best That I Can – Walter Gibbons Remix (West End Records, 1978)

Yaz – Situation – François Kevorkian Dub Version (Sire, 1982)

First Choice – Let No Man Put Asunder – Frankie Knuckles Vocal Mix (Salsoul, 1983)

Jimmy Ruffin – Hold On To My Love – Robbie Leslie Remix (ERC, 1984)

MFSB – Love Is The Message – Mr. K Re-Edit (T.D. Records)

Carl Bean – I Was Born This Way – Shep Pettibone Better Days Version (Next Plateau, 1986)

La Flavour – Mandolay – Latin Rascals Version (Seathru Records, 1987)

Data – Living Inside Me – A-2 Vinyl Mix (Razormaid, 1989)

DJ Harvey – Love Finger (Black Cock, 1998)

Patti Jo – Make Me Believe In You – Black Science Orchestra Re-Edit (Original Sound Track Recordings, 1999)

Patti Labelle – Get Ready (Looking For Love) – Ron Hardy Back To The Music Box Edit (Nuphonic, 2000)

Theo Parrish – Ugly Edits Vol. 2 (Ugly Edits, 2002)

Dance Reaction – Disco Train – Morgan Geist Caboose Mix (Environ, 2003)

Johnnie Taylor – What About My Love – Joey Negro Re-Edit (Rapster, 2004)

Isaac Hayes – I Can’t Turn Around (Ron’s Edits, 2004)

Tantra – A Place Called Tarot – Idjut Boys Re-Edit (Tirk, 2004)

The Slits – Bassvine (Secret Mixes Fixes, 2005)

Tangoterje – Can’t Help It (G.A.M.M, 2005)

– Scared (Jiscomusic, 2005)

Best Friend Around – It’s So Good To Know – Dim’s Re-Edit (Labels, 2005)

Dazzle – You Dazzle Me – Edit (Azuli, 2006)

Midnight Star – Midas Touch – Hell Interface Remix (Boards Of Canada, 2007)

Bim Marx – Stronger (Stilove4music, 2008)

Various – Reflection Series #2 (Medusa Edits, 2009)

GW- Two Sides Of Sympathy – GW Edit (Reactivate, 2009)

Musikexpress 7/11


Deep House 3.0 – Die Sache mit dem Preset-Traditionalismus

Posted: March 22nd, 2011 | Author: | Filed under: Texte Deutsch | Tags: , , | 31 Comments »

Es gab eine Zeit, grob eingeteilt gegen Ende der 80er Jahre, in der man House und Techno noch nicht auseinanderdividieren konnte. Detroit Techno war noch weitestgehend ein Spezialistenthema, und bevor man via England die Massenkompatibilität entdeckte, war unmittelbar nach der Acid-Ära noch alles House, wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Doch dann fand eine grundlegende Trennung statt, die bis heute Bestand hat. House ist seitdem die Musik von Traditionsbewusstsein, Disco-Erbe, Deepness, dem großen Gefühl, dem ewigen , der wahren Wahrhaftigkeit. Techno hingegen der vermeintlich futuristische Gegenentwurf, die Suche nach der Alternative, die Lossagung der Clubmusik von der eigenen Geschichte, und natürlich auch der musikalische Hort des Rave. Lange Jahre fanden große Teile der Techno-Gemeinde House spießig und schwul, und große Teile der House-Gemeinde fanden Techno stumpf und oberflächlich. Natürlich konnte der echte Soldier ebenso wenig mit kommerziellen Handtaschen-House anfangen, wie der echte Detroit Techno- oder IDM-Fan mit den Love Parade- oder Mayday-Horden, und natürlich konnte man auch mit House und Techno gleichzeitig glücklich sein, aber die Schubladen waren offen und man sortierte sich größtenteils aneinander vorbei. Dann kam der Siegeszug von Minimal, erst mit House-, dann mit Technoanbindung, und beide Lager hatten solange Einbußen zu verzeichnen, bis der Dancefloor der ständigen Reduktion auf das Wesentliche wieder überdrüssig wurde, und die Wiederkehr zu deutlicheren Signalen wieder an der Reihe war.

Doch nun ist es der klassische House-Sound, der auf einmal das Lauffeuer entfacht hat, und Techno ist das zeitweilige Annektierungsgebiet, was in den Jahren zuvor eher umgekehrt war. Und wie es dann immer ist wenn ein Sound die Vorherrschaft übernimmt, ist jeder schon immer dabei gewesen, und jeder will nichts anderes mehr produzieren, anderweitige Diskografien oder späte Geburtenjahrgänge hin oder her, egal wie man sich auch wieder um- oder zurückorientieren mag wenn die Hausse wieder schwächelt. Und natürlich hat jede Generation das Recht sich bei neuen Produktionen aus dem Reservoir der vorherigen zu bedienen, das war schon zur Disco-Ära so, zur House-Pionierphase, und bei nahezu allem was danach kam. Das Rad, es lässt sich wohl tatsächlich nicht neu erfinden, wenn der Track vernünftig rollen soll.

Es ist aber trotzdem erstaunlich, wie wenige Produzenten zumindest versuchen, sich vom Referenzspektrum der House-Geschichtsbücher mit einer eigenen Handschrift zu emanzipieren. Es mag daran liegen, dass der Zugang gerade bei der jüngeren Generation zu frisch ist, man muss sich erst einmal abarbeiten, und in Zeiten, in denen jede noch so obskure Kleinstlabel-Veröffentlichung ohne weiteres im Netz zu finden ist, und sich jeder einstmals noch so individualistische Soundentwurf binnen kürzester Zeit im Software-Studio nachbauen lässt, muss man vielleicht noch etwas warten, bis sich aus der reinen historischen Aufarbeitung neue Impulse ergeben. Gerade jetzt findet das offensichtlich kaum statt. Eine erdrückende Vielzahl von aktuellen House-Produktionen möchte zuallererst möglichst genau die Klassiker imitieren, denn womöglich sind sie aus gutem Grund zu Klassikern geworden. So klingt man in der Regel nach Früh--Schmutz oder Früh-New York-Eleganz, oder Theo oder Kenny, Moritz und Mark, Larry oder Bobby, oder Rheji und Ronald oder Chez und Trent, aber meist wenig nach sich selbst. Man wildert vielleicht auch bei unbekannteren Inspirationsquellen, aber nicht minder eins zu eins, und somit mit keinem größeren Mehrwert.

Die einzige Anbindung an das Jetzt sind dann oft nur die modernen Preset-Sounds, bei deren Anwendung dann gerade die Qualitäten verlorengehen, die einst die Klassiker gerierten. Dass das einfach nicht gut funktioniert, demonstrieren auch so manche alte Helden, die im hastigen Versuch den Anschluss wiederherzustellen, ebenso glatt, emotionslos und mittelmäßig klingen wie ihre Nachahmer. Die Sache mit House und dem Feeling, sie scheint leichter zu sein als sie ist, und sie lässt sich mit ein paar nach dem Schulbuch gesetzten Flächen, Akkorden und Vocal-Samples nicht automatisieren. Da nützt es auch nichts, wie bei der Midtempo- bis SlowMo-Brigade, die Musik zu verlangsamen. Wenn die Musik an sich schon zu wenig bietet, könnte man sie auch wieder hochpitchen, und sie würde immer noch zu wenig bieten. Und auch wenn die UK-Jungspunde alters- und wissensbedingt erst jetzt genau den Reiz der Disco-Acapellas auf ihren Sample-CDs entdecken, den einst etwa Todd Terry als Signatur von seinen eigenen Wurzeln in seine Gegenwart rekontextualisierte, es ändert nichts an der Tatsache, dass man sich überhaupt noch bei Sample-CDs bedient, anstatt selber etwas samplen, was noch nie benutzt wurde. Wenn sich in DJ-Sets das wahre Alter eines Tracks nur darüber entlarvt, dass es beim Abspielen knackt und knistert und mit den Klangzutaten weniger taktgenau und strukturformatiert umgegangen wird als in den paar Mimikry-Produktionen davor und danach, ist etwas grundlegend faul im Staate Baukasten-Prinzip, und das kann nur mit einer guten Portion Individualismus, Eigeninitiative und Forschergeist behoben werden. Hat schon oft genug vorher geklappt, und wirkt auch langfristiger, sonst müsste man da ja auch überhaupt nicht mehr ständig ansetzen. In diesem Sinne.

de:bug 04/11